Seine Totemtiere waren eigentlich Adler und Schlange, zumindest in „Also sprach Zarathustra“, seinem Evangelium für eine Welt ohne Gott. Aber das wirkliche Schicksalstier für Friedrich Nietzsche war das Pferd. Es begann gut damit. Die Schwester erzählt, wenn wir ihr glauben können, von einer Zirkusveranstaltung, bei der ein Pony zu dem klügsten Jungen traben sollte. Klar, es war der kleine Fritz, dem dies sehr peinlich war.

Mit 24 ist Nietzsche bei der Reitenden Artillerie und viel mit Pferden beschäftigt: Es graue ihm, wenn er in das Antlitz des Gaules sehe, denn „es ist beim Hund meine eigene Gestalt.“ Er gilt als einer der besten Reiter unter den Rekruten und hat doch beim Aufspringen auf das Pferd einen bösen Unfall. 1882 hat der Philosoph die verrückte Idee, sich selbst mit seinem Freund vor einen Leiterwagen zu spannen, und zwar in einem Fotoatelier in Luzern: Lou Salomé treibt sie mit einer Kinderpeitsche an. Schließlich Turin, im Januar 1889, als ein Pferd Zeuge seines Zusammenbruchs wird.

Nietzsche wohnt seit 1888 in Turin, er ist einsam und erfolglos. In den letzten Jahren hat er sich schon öfter in Tiere verwandelt. Vom Hund wird er zum Biber, der sein philosophisches Werk baut, oder eben zum Pferd. In „Ecce Homo“ heißt es: „Mein Genie ist in meinen Nüstern.“ Die Nase und Gnosis, Riechen und Erkennen sind bei ihm nicht nur etymologisch aufeinander bezogen. Manchmal fühlt sich der nomadische Denker als altes Pferd, das von Ort zu Ort zieht.

Jetzt aber die Katastrophe von Turin. Sein Vermieter will sich so erinnern: Nietzsche sei um den 3. Januar in Turin auf die Piazza Carlo Alberto getreten und habe gesehen, wie in der Nähe eines prächtigen Reiterdenkmals ein Droschkengaul von seinem Kutscher auf das Übelste malträtiert wurde. Er sei sogleich zu dem Tier gelaufen und habe es weinend umarmt. Hat er gesagt: „Oh mein Bruder?“ Wollte er nicht mehr loslassen?

Die Nietzsche-Aktion in der Zeitung

Sein Vermieter, ein Kioskbesitzer, eilte herbei und sah den Professor gefolgt von schreienden Menschen. Um 1900 erschien ein anonymer Artikel über die Vorkommnisse in der Zeitung, viele Jahre später hat man die Szene berichtet und vielleicht ausgemalt. Nietzsche jedenfalls hatte seinen Verstand verloren, hielt sich für Dionysos oder Christus und schrieb wahnhafte Briefe. Er improvisierte stundenlang wie wild auf dem Klavier des Hauses und tanzte nackt in seinem Zimmer. Es folgten zehn Jahre der geistigen Dumpfheit in der Obhut von Mutter und Schwester, zuletzt in Weimar, wo er 1900 starb.

Warum fasziniert die Episode bis heute? Sie enthält starke Bilder: Das Genie verfällt dem Wahn, der Antichrist macht sich zum Gekreuzigten. Der Verächter des Mitleids wird zum tragischen Mitleidenden. Er, der sich über allen Menschen wähnt, fühlte nun mit dem Tier. Ähnliche Szenen finden sich vor und nach Nietzsche in der Literatur, etwa bei Dostojewski oder Joseph Conrad.

Das Pferd von Turin lebt weiter. Jim Morrison von den Doors beschwört 1968 die Szene auf dem Klavier in seiner „Ode to Friedrich Nietzsche“, Belá Tarr dreht „The Turin Horse“. Der Australier David Brooks fragt, was das Pferd gedacht haben mag in „Turin: Approaching Animals“ (2022). Nietzsche hat dieses Interesse vorausgesehen: „Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat.“ („Die fröhliche Wissenschaft“, § 224)

Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.

Elmar Schenkel hat „101 Briefe an Friedrich Nietzsche“ (Hamouda 2019) mitherausgegeben sowie den Essayband „Wahre Geschichten um Nietzsche“ (Tauchaer Verlag 2023) publiziert.

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