Herbst 1983. Kalter Krieg. Das Klima zwischen den Supermächten USA und UdSSR ist frostig. Die Angst vor dem Dritten Weltkrieg grassiert. Hüben wie drüben. Auch in der streng geheimen sowjetischen Zentrale für Raketenüberwachung nahe Moskau.
Eine wahre Geschichte
Es ist die in Nacht vom 25. auf den 26. September 1983. Das Kommando führt Oberstleutnant Stanislaw Petrow. Lukas Maisel macht den 44-Jährigen zur Hauptfigur in seinem sorgfältig recherchierten Tatsachenroman.
Der Autor schildert seine Figur als zurückhaltenden, besonnenen Menschen: «Nicht das Abwarten brachte einen in Schwierigkeiten», pflegt Petrow zu sagen, «sondern das überstürzte Handeln».
Es ist 15 Minuten nach Mitternacht. Da, plötzlich: Alarm! Das computergestützte Frühwarnsystem meldet anfliegende Interkontinentalraketen. «Petrow starrte auf die Landkarte, wo ein Quadrat um eine der amerikanischen Basen aufleuchtete», schreibt Maisel. «Das kann nicht sein, dachte Petrow. Es leuchtet, blutrot leuchtet es, aber geschieht das gerade wirklich?»
Die Doktrin bei einem amerikanischen Erstschlag ist eindeutig: Die Sowjetunion antwortet unverzüglich. Nuklear. Stanislaw Petrow müsste jetzt dem Kreml Meldung machen. Und dort würde der Staatschef – der todkranke Juri Andropow – den Gegenschlag autorisieren: roter Knopf. Atomkrieg. Der Alarm wird sich später als Fehlalarm erweisen. Er beruhte auf Kinderkrankheiten des noch jungen Überwachungssystems.
Wie entscheiden?
In jener Schicksalsnacht ist die Last der Verantwortung gewaltig, die auf Stanislaw Petrow liegt. Melden, oder nicht melden? Die Zeit drängt. Maisel schreibt: «Er wusste, wie schwerwiegend seine Entscheidung war: Wenn er einen Fehler machte, dann konnte diesen Fehler niemand korrigieren.»

Stanislaw Petrow entscheidet sich. Nichts tun. Wenn er falsch liegt, würden in wenigen Minuten die Raketen niedergehen: «Sein Mund war ausgetrocknet. Ich könnte, dachte er, nicht einmal spucken, wenn ich wollte. … Wie kurz vor dem Gang nach Golgatha fühle ich mich. Ob Christus wohl ausspucken konnte, als er den Hügel hochging?»
Passagen wie diese, in denen Lukas Maisel in die Psyche seiner Figur vordringt, zählen zu den stärksten des Buchs. Leider sind sie zu selten, sodass Stanislaw Petrow insgesamt seltsam blass erscheint, unterkomplex und in seinem Handeln nicht verständlich.

Dies mindert die Dringlichkeit des Buchs. Obwohl es gerade heute brandaktuell ist, wo Russland in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine die Angst vor dem Atomkrieg schürt. Oder wo – ganz grundsätzlich – digitalisierte Gesellschaften vor der Frage stehen, wie viel Macht sie den Algorithmen überlassen wollen.
Ungenutztes Potenzial
Gerne hätte man erfahren, woher Stanislaw Petrow die Charakterstärke nahm, im entscheidenden Moment nichts – und damit eben das Richtige – zu tun. Der Militär war gewohnt, Befehle auszuführen und wurde im diktatorischen Sowjetstaat sozialisiert.
Wie geht dies zusammen mit dieser eindrucksvollen Unabhängigkeit im Denken und Handeln? Welche Rolle spielte möglicherweise die Lebenswelt dieses Mannes? Lukas Maisels Buch ist durchaus lesenswert. Die Geschichte des einsamen Helden Stanislaw Petrow, der 2017 arm und vereinsamt starb, hätte jedoch das Potenzial zu mehr geboten.
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