Auch 80 Jahre nach Kriegsende erscheinen Bücher erstmals auf Deutsch, die bisher hierzulande nahezu unbekannt waren. Wie jetzt das von József Debreczeni. Wer die 250 Seiten des ungarischen Juden liest, braucht starke Nerven: Dieses Grauen muss man erst einmal aushalten.
Als die "grasgrünen Henkersknechte" - die Farbe bezieht sich auf die Uniformen der deutschen Feldjäger - den jüdischen Insassen der völlig überfüllten Güterwaggons nach Auschwitz "an einem Waldrand voller blühender Bäume" eine Pause für eine Notdurft gewährten, glichen sich Unterdrücker und Unterdrückte an, ohne im Geringsten gleich zu sein. In den "frisch rasierten Gesichtern" der Bewacher "war keine Regung zu erkennen. Sie waren keine Menschen. Auch die Hockenden waren keine mehr." In dem Augenblick "vollzog sich eine erstaunliche Metamorphose. Hier wurden die Menschen der plombierten Höllenzüge zu Tieren."
So beschreibt der jüdische Journalist und Schriftsteller József Debreczeni den Moment, "in dem uns zum ersten Mal unsere aufrechte Haltung genommen wurde". Zu lesen sind die Sätze gleich vorn in seinem Buch "Kaltes Krematorium", das 1950 in seiner Heimat Ungarn erschienen war, aber außerhalb der Grenzen des Landes nicht die Aufmerksamkeit erhielt, die es schon damals verdient hätte. Erst 75 Jahre später - acht Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz - ist es nun vom Verlag S. Fischer auf Deutsch publiziert worden. Endlich!
Am ehesten vergleichbar ist der Bericht des Holocaust-Überlebenden, grandios übersetzt von der Leipzigerin Timea Tankó, mit dem - ebenfalls spät, nämlich erstmals 2020 in der Bundesrepublik verlegten - Werk des französischen Widerstandskämpfers David Rousset. Er schrieb "Das KZ-Universum" gleich 1945 nieder. Beide Bücher haben eine Gemeinsamkeit: Die krassen Schilderungen entfalten einen gespenstischen Sog des Grauens. Rousset und Debreczeni erzählen schonungslos von den alltäglichen Abgründen der KZs und davon, wie das System am Laufen gehalten worden ist. Ihre Stärke ist das Beobachten, das Überliefern.
Kaum zu ertragen
Carolin Emcke bescheinigt dem Verfasser von "Kaltes Krematorium" in ihrem Nachwort zu Recht "gnadenlose Präzision". Wer die 250 Seiten liest, braucht Nerven wie Stahlseile: Die Erzählung, was "die Amokläufer des Rassenwahns" mit all den Menschen angestellt haben, die nicht in ihr religiöses, politisches und gesellschaftliches Raster passten, muss man aushalten können. Der Autor dieser Rezension hat es nicht in einem Atemzug geschafft; er las nach der Hälfte des Buches das letzte Kapitel, in der Debreczeni wieder ein freier Mann ist, um durchschnaufen zu können. Denn ansonsten ist der Bericht eine einzige Ansammlung brutaler und trauriger Szenen über die "Knochenmänner" und ihre Peiniger, die Albträume verursachen.
Debreczeni war im April 1944 nach Auschwitz deportiert worden und gehörte zu den Juden, die körperlich so fit waren, dass sie der Gaskammer entkamen. Für sie galt: Vernichtung durch Arbeit. Seine zwölf Monate währende Odyssee führte ihn durch mehrere Außenlager der KZs Auschwitz und Groß-Rosen. Seine letzte Station war das "Kalte Krematorium", die Krankenbaracke des Zwangsarbeitslagers Dörnhau, das heute in Polen liegt. Dort verbrachte er etwa ein halbes Jahr, ständig umgeben von Toten und selbst immer wieder an der Schwelle zum Tod.
"Der Nacht gehören das kämpfende Wimmern, der Abschiedsschrei, das schmerzvoll mit Daheim verbindende Delirium", schreibt Debreczeni über die katastrophalen Zustände fernab jeglicher Humanität. "Wir leben inmitten von furchtbar entstellten, abstoßend gewordenen Körpern. Im Panoptikum von Ödemen und üblen Geschwüren."
Die Krankenstation hat rein gar nichts mit Pflege oder der Chance auf Genesung zu tun. Die Leute sind hier nur zum Sterben, viel zu oft unter Höllenqualen. Wer sie lebend verlassen will, braucht Kontakte zu den Häftlingen oben "in der komplizierten Hierarchie der Parias", die Essen besorgen und vielleicht Kohletabletten beschaffen und dafür sorgen können, dass Mitinsassen mit Macht sie in Ruhe lassen. Die Erläuterungen zur Rangfolge innerhalb der Gefangenen sind eine der großen Stärken des Buches. "Die Deutschen selbst blieben innerhalb des Stacheldrahts meist unsichtbar." Um die KZ-Struktur zu erhalten, nutzten sie "Sklaven, die Sklaven verprügelten". Denn überleben wollten schließlich alle.
Jenseits der zivilisierten Welt
Die "Treiber" im Auftrag der deutschen Sklavenhalter "erhielten - neben besserer Suppe, besserer Kleidung und Gelegenheiten zum Stehlen - als Trinkgeld das wirkungsstärkste Opium: Macht." Das bisherige Dasein jedes Einzelnen galt nichts mehr, alles verschmolz zu einer Masse Hunderttausender Namenloser mit eintätowierter Nummer. Das Gefüge der zivilisierten Welt war in den KZs auf den Kopf gestellt. Das Sagen hatten die Brutalsten, die Skrupellosesten, die Fiesesten. "Kurioserweise wurden die Mächtigen von Auschwitz vor allem aus dem Kreis derer rekrutiert, die daheim zur untersten Schicht der jüdischen Bevölkerung zählte." Dagegen präsentierten sich "alle, die draußen im bürgerlichen Sinn eine glänzende Laufbahn gehabt hatten, hier als die Unbeholfensten".
Debreczeni betrachtet die Massenmörder als Angehörige eines Volks "voller innerer Widersprüche und frappierender Extreme". Als Beispiel nennt er an einer Stelle Robert Koch, den Entdecker der Erreger von Milzbrand, Tuberkulose und Cholera, und Ilse Koch, genannt "die Hexe von Buchenwald". Oder einen besonders gewaltlüsternen SS-Sturmbannführer: "Abends, nach dem Appell, nimmt er seine Geige und spielt den schweigenden Sternen unsicher, in kratzenden Tönen sentimentale Melodien vor."
Aber vor allem sind es die Schilderungen der Schwerstarbeit, der Folter, der Pein, der Prügel, des schmerzenden Hungers und Dursts, des ewigen Sterbens, des Elends, des Gestanks, der Schlaflosigkeit, der unhygienischen Zustände, des sinnlosen Kampfes gegen Milliarden Läuse, die jeden mitnehmen, der einen Hauch Empathie besitzt. Wobei die Vorstellungskraft trotz aller NS-Dokumentar- und Hollywoodfilme wie "Schindlers Liste" nicht reicht, tatsächlich nachzufühlen, wie es wirklich war. Etwa "Amputationen mit dem Küchenmesser" oder Appelle in strömendem Regen: "eine durchdachte lustvolle Folter, eine zermürbende Extraportion Qual. Durchnässt, frierend, hungrig, voller Läuse und schwarz vor Steinstaub stehen wir da."
Ein "Schatten unter Schatten"
Die Befreiung durch die Rote Armee naht. Wie es um Hitlers perversen Traum vom Dritten Reich und der angeblichen Überlegenheit der "arischen Rasse" steht, erkennt Debreczeni am Verhalten der SS-Leute, an ihrem Gang, ihren Gesichtern. Das KZ-Universum beginnt sich aufzulösen. "Die Toten werden nicht mehr registriert. Wenn jemand feststellt, dass sein Nachbar sich nicht mehr regt, stößt er die Leiche einfach von der Pritsche." Die Folge davon ist: "Nackte Leichname liegen tagelang in den Jauchebächen." Der Ungar wiegt noch um die 35 Kilo, wie er schätzt. "Ich bin ein Schatten unter den Schatten."
Noch kann er sich nicht freuen, denn jeden Augenblick kann es vorbei sein. "In mir herrscht Gleichgültigkeit. Ich sehne mich nicht nach dem Leben, auch nicht nach dem Tod", schreibt der ungarische Jude. Endlich die Befreiung: "Wie versteinert betrachten die sowjetischen Soldaten das Geisterhaus." Ein Offizier kommt in die Baracke, "watet durch die Jauche, tritt an die Betten heran. Er zittert am ganzen Leib." So wird es vielen gehen, die das Buch lesen.
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