Da ist etwa dieser kaputte Typ, der einmal Priester war. Schon als Kind hatte er das toll gefunden, so im Mittelpunkt zu stehen, angesehen und bewundert von der ganzen Gemeinde, die jedes Wort von seinen Lippen abliest. Ein guter Job mit regelmäßigem Einkommen ist das in seiner Gegend im Mittleren Westen auch; und dann lernt der Reverend bei einer Zusammenkunft auch noch die Frau seines Lebens kennen. Nur an Gott glaubt er nicht. Und dann geht es irgendwann den Bach runter.
Von Menschen wie diesen singt Craig Finn, bekannt vor allem als Frontmann der New Yorker Rockband The Hold Steady und immer wieder auch solo unterwegs. Auf seinem neuen Album „Always Been“ (Tamarac/Rough Trade) spielt der Priester ohne Gott songübergreifend eine tragende Rolle: das erste Lied „Bethany“ gibt so etwas wie seine Kurzbiografie, in der angedeutet wird, dass der Mann wegen häuslicher Gewalt erst seine Frau und dann auch seinen Job verlieren wird.
„Dieser Priester“, sagt Craig Finn beim Treffen in Berlin, „ist eben auch ein Mensch, ein Mensch mit Erbsünde. He’s only human, wie man so sagt. Aber er muss das Göttliche repräsentieren.“ Er habe zu Teenager-Zeiten einmal jemanden gekannt, der Priester werden wollte und ihn dann später aus den Augen verloren. „Er ist dann jung gestorben, woran genau weiß ich nicht, aber ich vermute, dass er Probleme damit hatte, auf der, sagen wir’s mal so, ‚richtigen Seite‘ zu bleiben.“
Craig Finn, geboren 1971, stammt aus einem Vorort von Minneapolis, und seine Jugend in seiner Heimatregion der „Twin Cities“ (der andere Teil ist Saint Paul) liefert bis heute den unerschöpflichen Grundstoff seiner Song-Erzählungen. Für den Mittleren Westen in seiner suburbanen Ausprägung sind Finn und „The Hold Steady“, was ein Springsteen (unüberhörbar eines seiner Vorbilder) für New Jersey ist – ein Chronist der sogenannten einfachen Leute, der Verlierer und der Abhängten, der Nie-Angekommenen und der Vom-Weg-Abgekommenen. Leute „on the fringes“, fasst Finn selbst sein Ensemble zusammen. An dieser Abbruchkante kann dann selbst ein Geistlicher stehen, wenn er einmal von allen guten Geistern verlassen ist.
Finn ist katholisch aufgewachsen, geht selbst immer noch gelegentlich zur Messe, obwohl er die Institution ablehnt, nicht zuletzt wegen ihres Umgangs mit Missbrauchsskandalen und auch wegen der politischen Rechtslastigkeit vieler Geistlicher. Wenn er selbst kein Instrument hätte spielen können oder ein Spätzünder gewesen wäre, wäre aus ihm statt Rocksänger vielleicht selbst Priester geworden, sagt Finn: „Das wäre Ausdruck desselben Bedürfnisses gewesen. Rock’n’Roll kommt nun mal aus der Kirche: Little Richard war ein Prediger. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen Rock und Religion. All diese Rituale, das rhythmische Klatschen, das ist sehr katholisch.“
Zu Beginn der Nullerjahre ging Finn nach New York und gründete dort zusammen mit dem Gitarristen Tad Kubler „The Hold Steady“ – eine Retro-Rockband, die mit schweren Riffs und vielen Ohohos und Yeahs in den tiefgepflügten Spuren von 70er- und 80er-Bands unterwegs ist. Der Durchbruch gelang mit dem Album „Boys and Girls in America“ von 2006. Was sie von Anfang an aus der Flut von „The“-Bands dieser Jahre heraushob, war die Verbindung mit Finns markantem Sprechgesang, der stets so wirkt, als wäre er der leicht manische Typ an der Bar, der ausgeschmückte Anekdoten von entfernten Bekannten erzählt. Und die leben meistens in Minnesota oder Wisconsin und haben ihr Leben nicht wirklich im Griff.
Musikalisch sind seine Soloalben deutlich weniger spektakulär als Hold-Steady-Hymnen wie „Killer Parties (Almost Killed Me)“ bis „Stay Positive“. Aber auch der Schreibprozess ist ganz anders, bei The Hold Steady textet Finn zu den Ideen der Band „Die Musik neigt dazu, ziemlich big zu sein, also wird auch der Text big. Jemand tut etwa etwas total Verrücktes. Bei den Solosachen gehe ich von ein paar einfachen Akkorden aus, die Geschichten werden kleiner. Ein Unterschied wie zwischen etwas Ausgefallenem, sagen wir einem Actionfilm, und einer Kurzgeschichte von Raymond Carver. Bei Hold Steady geht es oft um Menschen, die bewusst schlechte Entscheidungen treffen und den Weg bis zu irgendeinem gewaltsamen Ende gehen. Solo singe ich eher von Leuten, die das Richtige tun wollen, aber aus irgendwelchen Gründen trotzdem nicht vom Fleck kommen – wegen einer psychischen Krankheit, wegen einer Sucht, wegen ihrer Armut.“
Es beschäftigt ihn sehr, dass gerade viele dieser Leute heute zu den Wählern Trumps gehören. „Viele interessieren sich nicht für Politik. Sie sehen nur, dass das, was gerade ist, nicht funktioniert, und dass alles teurer wird, und probieren halt etwas anderes aus. Zugleich sind es gerade die Leute, von denen ich singe, die am meisten unter den aktuellen Kürzungen zu leiden haben, etwa beim Gesundheitswesen oder der Sozialhilfe.“
The Hold Steady hat inzwischen ein Repertoire von 138 Songs, wie Finn erzählt, weswegen sie bei den vier aufeinanderfolgenden Shows, die sie gerade in London gegeben haben, stets ein anderes Programm spielten. Seine Songtexte hat Finn in einem Buch versammelt; zur neuen Platte gibt es ein Begleitbuch „Lousy With Ghosts“ mit elf Kurzgeschichten (exklusiv bei Rough Trade, 29,99 Euro), die die Welt seiner Figuren weiter ausmalen, eine Fortsetzung mit anderen Mitteln. Die nicht überraschende Entdeckung: das ist weit mehr als ein nettes Gimmick für Superfans, sondern wirklich Literatur!
Auch diese Geschichten sind nicht autobiografisch. Er fühle sich freier, wenn er Rollen verwende. An einem größeren Prosastück sitzt er ebenfalls; er sagt, er tut sich schwer damit. „Es geht bei den großen Shortstory-Autoren wie John Cheever oder Raymond Carver immer um das, was sie weglassen, das ist beim Songschreiben auch so. Wenn ich also längere Prosa schreibe, geht es darum, weniger wegzulassen, und das ist eine Herausforderung.“
Doch schon das neue Album und sein literarisches Companion Book summieren sich zu einem episodenhaften Kurzroman. Der ungläubige Priester taucht immer wieder auf. Es ist eine Sammlung von Schlaglichtern auf das Auf und Ab des Lebens, für das nach dem Fall doch noch eine Art Erlösung vorgesehen ist. Vorgesehen von wem? Auf die Frage, ob er selbst religiös sei, erzählt Finn, wie sehr ihn und seine Partnerin im vergangenen Jahr der Tod ihres Hundes getroffen habe, dessen Foto er auf dem Handy zeigt (Kinder haben sie keine). Da habe er viel über das Sterbenmüssen und die Vergänglichkeit nachgedacht. Er erwähnt auch den Tod seiner Mutter vor 12 Jahren. „Ich glaube, nicht daran, dass sie irgendwo auf einer Wolke sitzen. Aber ihre Energie ist immer noch gegenwärtig. So etwas wie Karma, eine Art von Präsenz.“
Gibt es also doch Hoffnung für diese gefallene Welt, für dieses gefallene Amerika? Finns Antwort fällt zweiteilig aus: Was die Aktualität angeht, so gebe es nur einen einzigen Trump. Dessen Ideen wären mit einem anderen Botschafter nicht so wirkungsvoll. Man müsse Trump einfach überleben. Allgemein sei es so, dass die Menschheit immer wieder in Zeiten der Angst gelebt hätte. „Es ist also immer schrecklich. Okay, das klingt jetzt nicht hoffnungsvoll.“
Glauben sei übrigens nicht auf das Feld des Religiösen beschränkt. Schon morgens aus dem Bett zu steigen oder zur Arbeit zu gehen, erfordere ein gewisses Maß an Glauben und Hoffnung. Und dann sagt Craig Finn, der einige der härtesten und traurigsten Songs über kaputte Beziehungen geschrieben hat: „Auch sich zu verlieben, ist ein Akt des Glaubens.“
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