In ihrem Podcast „News Core: Politik bis Popkultur“ unterhalten sich Imke Rabiega und Julian Theilen über Trends und aktuelle Debatten. Das folgende Transkript ist die Essenz der Podcastfolge „KI-Flirt mit Tinder und die Verklärung von Luigi Mangione“. Es geht um Tinder als Resterampe und Luigi Mangione als gefeierten Märtyrer.
Imke: Hallo Julian.
Julian: Hallo Imke.
Imke: Heute geht es um einen Mann, der seit Monaten immer wieder in den Schlagzeilen ist und dem nun im Zuge seines Mordprozesses in den USA die Todesstrafe wegen politischer Gewalt droht. Dieser Mann ist Luigi Mangione.
Julian: Genau, noch einmal kurz zum Hintergrund, Luigi Mangione ist ein Millionärssohn aus Maryland. Er wird verdächtigt, den CEO der wichtigsten amerikanischen Krankenversicherung, United Healthcare, ermordet zu haben. Der hieß Brian Thompson und wurde im vergangenen Dezember auf offener Straße in New York erschossen. Daraufhin gab es Fahndungsbilder und Videos und Luigi Mangione, der geflüchtet ist, wurde dann Stunden später in einem McDonalds festgenommen. Seitdem sitzt er in New York in Haft und wartet auf sein Verfahren.
Imke: Er hat auch ein Manifest geschrieben, in dem er die Ungerechtigkeit des Gesundheitswesens in den USA anprangert. Das gilt bislang als das Motiv für die mutmaßliche Tat. Das Interessante ist jetzt, dass Teile des Internets ihn nach der Festnahme nicht als kaltblütigen Mörder verurteilt haben, sondern er zu so einer Art Held stilisiert wird. Also ein Rebell, der gegen das ungerechte amerikanische Gesundheitssystem vorgeht, eine Art Robin Hood. In den USA, aber auch weltweit verteidigen viele junge Menschen seine Tat.
Julian: Ja, es ist die absolute Verklärung. Es fängt ja schon mit seinem Verhaftungsvideo an, wo dieser gut aussehende Mann, Luigi Mangione, im orangenen Anzug von einer Garde Polizisten wie ein Superstar ins Gefängnis begleitet wird. Wenn man überhaupt von abgeführt sprechen kann. Auch das Video von seinem Mugshot wurde millionenfach geteilt.
Imke: Auch das Outfit, das er auf seinem Fahndungsbild anhatte, wurde von vielen kopiert und als Outfit of the Day bei Instagram oder TikTok gepostet. Dann gibt es noch dieses Bild von seinen braunen Lederloafers, auf dem er Handschellen um die Füße herum hat, was dann auch total viral ging. In Boston gab es auch eine Party, wo sein Porträtbild auf Leinwände projiziert und als Partyhintergrund genutzt wurde. Er ist mittlerweile eine Stilikone. Die Frage ist jetzt, ob noch mehr hinter seinem Mythos steckt, als nur, dass er ganz objektiv schon ein gut aussehender, stylischer Typ ist.
Julian: Ich würde mal politisch reingehen. Ich glaube, der Fall zeigt eine linke Hilflosigkeit. Kapitalismus ist ja so ein abstraktes System aus Regeln, Dynamiken, Märkten, Anreizen. Es ist unfassbar schwer, das zu greifen, sich dem inhaltlich zu stellen und auf Veränderungen zu pochen. Ich glaube, das mag den Luigi Mangione-Fanboys und -Fangirls zu übermächtig vorkommen. Da suchen sie sich lieber eine reale Person aus, die das System aus ihrer Sicht vermenschlicht und repräsentiert. Das scheint nun dieser amerikanische Versicherungsunternehmer, Brian Thompson, zu sein. Sie wollen ihn tot sehen, damit der Kapitalismus sterben kann. Das ist ein fataler Irrglaube, denke ich.
Imke: Ja und eine Sache kurz noch zur Internet-Verklärung. Mangione selbst stammt ja aus einer wohlhabenden Familie, gehört also damit zu der Elite, die von der Krise des Gesundheitssystems eher nicht betroffen sein wird. Und ich finde es ganz interessant, dass das in der Diskussion um ihn relativ peripher behandelt wird. Dabei muss man das schon erwähnen, dass er diese Tat nicht aus existenzieller Not heraus begangen hat.
Julian: Für alle Psychoanalytiker der Welt muss das ein absolutes Traumszenario sein, was da mit Luigi Mangione passiert. Es ist ja schon auffällig, dass es mit einer Art Selbstdämonisierung, Selbsthass, Scham zu tun haben muss, aus diesem Elternhaus zu kommen und dass er jetzt anscheinend eine Art Wiedergutmachung leisten möchte.
Imke: Ja, Teile dieser Wut scheint Amerika auf jeden Fall zu teilen. Das erklärt wohl auch, warum der Fall so aufgeladen ist. Das Gesundheitssystem in Amerika wird wirklich gehasst von den Menschen. Was daran liegt, dass es einfach kein gutes gibt. Es gibt keine gesetzliche Krankenversicherung, wie wir sie bei uns in Deutschland automatisch haben. Versicherungsunternehmen machen extrem hohe Profite mit der Gesundheitsversorgung von kranken Menschen, beziehungsweise auch mit der Nichtversorgung. United Health Care, das Versicherungsunternehmen von dem getöteten Thompson, hat so viele Behandlungen abgelehnt in der Vergangenheit wie kein anderes Versicherungsunternehmen.
Julian: Ja, das ist wirklich schlimm, muss man sagen. Auf dem Rücken von kranken Menschen werden hohe Profite gemacht. Als CEO eines solchen Unternehmens brauchst du wahrscheinlich ein extremes Maß an Kaltblütigkeit – ohne ihn jetzt verteidigen zu wollen.
Imke: Nein, das rechtfertigt am Ende eben auch kein Gewaltverbrechen, also keinen Mord.
Julian: Was mir dann Sorge bereitet, ist die fehlende Bereitschaft auf linker Seite strukturell zu denken. Ich habe mal in die Kommentare von Insta-Kacheln zu Mangione geschaut …
Imke: Ja, ich habe auch bei TikTok geschaut, das ist verrückt.
Julian: Ja, hier zum Beispiel unter einem ZDF-Beitrag: „What the fuck, volle Zustimmung mit Luigi.“ „Free Luigi“ „Ich sehe hier kein Verbrechen, er ist ein Held.“ Wie hilflos kann man sich fühlen, einen Mörder als Helden zu bezeichnen? Es fehlt die völlige Bereitschaft von Thompson, der nur ein Repräsentant eines Systems ist, zu abstrahieren und das Problem strukturell zu lösen.
Imke: Das ist ein Musterbeispiel für eine Heroisierung. Ich habe ChatGPT mal gefragt, wie ein Heldenmythos entsteht, weil ich es so spannend fand. Und es trifft tatsächlich in allen Punkten auf Mangione zu. Laut ChatGPT passiert eine Heroisierung in folgenden Schritten. Als erstes muss jemand etwas Außergewöhnliches tun, dann gibt es eine narrative Konstruktion, also die Geschichte wird weitererzählt, oft vereinfacht oder dramatisiert. Dann passiert eine symbolische Aufladung, also die Person wird mit bestimmten Werten verknüpft und zu einem Symbol für zum Beispiel Freiheit, Gerechtigkeit, Widerstand. Und dann folgt soziale Bestätigung von Gesellschaften oder Gruppen, die diese Heroisierung verstärken, indem sie die Person feiern, nachahmen oder eben verehren. Zum Schluss gibt es dann eine Instrumentalisierung, wo die Helden dann für politische oder gesellschaftliche Zwecke genutzt werden. Das ist all das, was mit Luigi Mangione passiert ist.
Julian: Ich wollte gerade sagen, trifft alles zu, oder?
Imke: Ja, total. Aber wie könnte man denn, wie du vorschlägst, strukturell etwas verändern? Also was sollte man stattdessen tun?
Julian: Der lange anstrengende Weg ist wohl, sich in Gewerkschaften zu organisieren und politisch für ein besseres Gesundheitssystem zu kämpfen, die Übermacht der Konzerne einzudämmen. Das ist schmerzhaft, oft auch nicht zufriedenstellend, aber der einzige Weg, den es gibt. Für mich passt das aber so in eine Zeit, diese ganze Heroisierung von Luigi Mangione, in der die materielle Frage unter Linken generell total unsexy geworden ist. Das sieht man ja seit Jahren, dass sich Linke eher so auf Symboliken, Zeichen, Kulturkämpfe konzentrieren und die Klassenfrage wenig Stellenwert im linken Mainstream hat und dann eher das gesucht wird, was so emotionalisiert und es gibt wahrscheinlich wenig Sachen, die so emotionalisieren wie ein Mord.
Imke: Ja, ich glaube auch, der Marsch durch die Institutionen war einfach noch nie so wirklich sexy. Eine Frage hätte ich aber noch: Wie realistisch ist denn jetzt die Todesstrafe?
Julian: Das ist schwer zu sagen. Trump strebt ja an, wieder vermehrt auf die Todesstrafe in Bundesverfahren zu setzen. Für mich ist das der nächste unzivilisatorische Punkt. Denn hier wird ja wieder Feuer mit Feuer bekämpft. Alles wilder Westen, archaisch. Ich finde die Todesstrafe so unwürdig für eine zivilisatorische Demokratie.
Imke: Ich glaube, es bleibt jetzt auf jeden Fall noch abzuwarten, inwiefern man Mangione am Ende für schuldig erklärt, denn er hat ziemliche Star-Anwälte am Start. Mal gucken, wie der Prozess weitergeht.
Datinghilfe von KI und Tinder
Julian: Kommen wir jetzt zu Thema Nummer zwei. Es geht um Dating und künstliche Intelligenz. Die Verschmelzung war ja abzusehen, aber die Art und Weise ist schon interessant, oder?
Imke: Ja, ich hab auch drauf gewartet, wann es endlich passiert, und Tinder und OpenAI haben sich jetzt zusammengetan und am 1. April ein, sie nennen es Game Game, herausgebracht. Das Datum war kein Fehler, es ist auch kein April Scherz, es soll aber wohl trotzdem nicht so super ernst genommen werden, das Ganze.
Julian: Ab jetzt können Tinder-User also für eine begrenzte Zeit das Game-Game spielen. Das ist so eine Art Flirt-Simulator, betrieben mit der Technologie von ChatGPT.
Imke: Genau, in dem Spiel werden Nutzer in so absurde Datingsituationen geworfen, die sie dann möglichst charmant lösen müssen, um sich am Ende die Telefonnummer der KI oder ein Date mit der KI zu sichern. Es soll ein bisschen darum gehen, Unsicherheiten abzubauen und Humor, Witz und Lockerheit wieder zurück in das digitale Kennenlernen zu holen.
Julian: In der App wird das Feature über das Tinder-Logo im Hauptscreen aktiviert. Anschließend wählen Nutzer eine von mehreren Szenarien. Entweder ein erstes Treffen beim Hundespaziergang oder eine peinliche Begegnung im Supermarkt. Jedes Szenario startet mit einem gesprochenen Einstieg der KI, auf den die Nutzer dann ebenfalls per Sprache reagieren müssen.
Imke: Das wäre für mich schon mal die erste Hemmschwelle, mit Sprache zu reagieren. Während der Konversation, die man dann so führt mit der KI, bewertet sie dich die ganze Zeit. Also, bewertet, wie charmant man ist, wie kreativ oder wie passend man antwortet. Wer das gut macht, der bekommt ein positives Feedback. Wer öfter ins Fettnäpfchen trifft, der wird von der KI dazu aufgefordert, zum Beispiel weniger sarkastisch zu sein oder sich mal empathischer zu verhalten. Nach jeder abgeschlossenen Runde bekommen dann die Nutzer so eine ... Ja, so einen detaillierten Feedback-Bogen, den können Sie dann auch mit Ihren Freunden teilen. Was halten wir davon, Julian?
Julian: Ich find's eigentlich ganz lustig, der gute Flirt ist ja schon eine wahre Kunst, oder? Man muss subtile Stimmungen lesen und da ist das so ein digitales Vorfeld des Flirts, würde ich mal sagen, ne ganz gute Übungsform. Aber die wichtigsten Dinge kann man da auch nicht lernen: die Mimik und Gestik des Gegenübers zu lesen, die ersten leichten Körperberührungen.
Imke: Ich finde es auch interessant, dass wir anstatt zurück in die Realität zu kommen, wir noch weiter in digitale Sphären abwandern. Nachdem doch schon alle gemerkt haben, dass dieses oberflächliche Swipen niemanden so richtig weiterbringt. Ich bin gespannt, wie es ankommt. Es gibt ja gerade viele neue Konzepte, die aus dem Boden sprießen, wenn es um neue Ideen für Online-Dating geht. Unter anderem auch welche, die wieder mehr den Bezug zur Realität suchen, wie zum Beispiel Diner Date, wo man sich für Restaurantbesuche oder Sport verabredet. Ich sehe das auch als das letzte Aufbäumen von Tinder, weil es so uncool geworden ist und auch wirtschaftlich mäßig läuft. In Deutschland habe ich das Gefühl, das ist so eine leere Hülle mittlerweile.
Julian: Nach allem, was ich höre, ist das eine absolute Reste-Rampe. Wie wenn man im Club ist und um 5 Uhr geht das Licht an und man merkt: Ach kacke, ich bin ja immer noch hier. So stelle ich mir Tinder vor.
Imke: Also vielleicht doch mal wieder in den Club gehen. Ich glaube, das ist eine gute Idee.
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