E in bisschen Schauer ist ja immer, wenn man durch die Villenräume des Liebieghauses am Frankfurter Mainufer streift. Vorbei an den steinernen Figurenfragmenten aus uralten Kulturen, die dort ihren Ehrfurcht gebietenden Seniorensitz haben. Diese stolzsteifen Göttinnen, die nackten Heldenmänner, die jugendlichen Köpfe mit der abgebrochenen Nase, der „Beter aus dem Zweistromland“, Alexander, der makedonische Welteroberer als ägyptischer Pharao aus Rosengranit.

Fremde Boten allesamt. Herkunft aus verschütteten Welten. Und bei jedem Schritt in ihre Nähe ist es, als entfernten sie sich ein Stück weiter von uns. Vermutlich bedarf es in diesem grandiosen Museum keiner allzu strengen Abstandsregeln. Die Antike hält schon selbst auf Distanz.

Nun allerdings ist es etwas anders. Den Überbringern vergessener Geschichten aus versunkener Geschichte sind mit einem Mal Dinge untergemischt, die auf den ersten Blick wirken wie Karneval an der Porta Sancta. Zwei Gipsabgüsse zum Beispiel der Berliner Nofretete zwischen Mumien und geisterköpfigen Gräberstelen, beide mit Sonnenbrille, was im dunklen Raum sehr fashionable aussieht. Wenn man ratlos weitergeht, steht man vor der Replik eines nackten römischen Bronzeknaben mit Kopfhörer auf dem Lockenkopf, langem umständlichem Kabel und einem CD-Player, der auf frühdigitale Herkunft schließen lässt.

Den Einbruch in die Alte Welt haben sie Isa Genzken zu danken. Das heißt, nicht ihr, die Künstlerin ist zu krank, um noch den Ausstellungsbetrieb bedienen zu können. Aber sie hat ihren langjährigen Galeristen Daniel Buchholz vorgeschickt, der nun zusammen mit dem Liebieg-Direktor Vinzenz Brinkmann Teile ihres Werks in die Museumssammlung implantiert hat. Behutsam, fantasievoll, leise anspielend und ohne die okkupativen Gesten, mit denen die Kunst der Gegenwart so gern auf sich aufmerksam macht.

Die „9 Schauspieler“ – Schaufensterpuppen, lumpig behängt und derb bemalt – bilden mitten im Raum einen Kreis wie eine ratlose Besuchergruppe. Als wollten sie die erhabenen Stammgäste in ihrem Rücken und ringsum an den Wänden in ihrer andächtigen Selbstversunkenheit nicht wirklich stören. Verblüffend ist ja schon, wie souverän die Skulptur der Göttin Athena angesichts der punkigen Eindringlinge ihre Würde verteidigt.

Besuch aus der Jetzt-Welt

Jedenfalls ist es keineswegs so, dass dem Sprung über Jahrtausende hinweg nur Befremdung gelänge. Es ist nach Jeff Koons und William Kentridge der dritte Versuch des Museums, unter den festlichen Aufzug der Antiken ein paar zeitgenössische Maskenträger zu mischen. Und nie ist es so gewesen, dass sich die feierlich inszenierten Museumsstücke über den Besuch aus der Jetzt-Welt beklagt hätten.

Auch das starr blickende Relief der Gorgo Medusa nicht, das man in einem griechischen Grab in Neapel gefunden hat. Aus den vorhandenen Farbresten hat das Museum im Rahmen seines berühmten „Polychromie Research Project“ die ursprüngliche Bemalung rekonstruiert. Eines der famosen Beispiele, mit denen die Frankfurter Wissenschaftler den zweifelhaften Ruf der „weißen Antike“ zerstören.

Freilich hat nun auch das sanfte Rosa im Gesicht das Monster kaum zu zivilisieren vermocht. Zumal ihm gegenüber jetzt ein konkav gebogenes Bild der Isa Genzken hängt, das an die Innenwand eines Flugzeugs denken lässt, während sich draußen am ovalen Fenster eine schauerliche Medusa anklammert. Ein Albtraum, der die ziemlich wüste Gorgo-Medusa-Geschichte aus der Mythologie auf zeitgenössisch dystopische Weise weitererzählt.

Auf der Bestenliste der Gegenwartskunst rangiert Isa Genzken weit oben. Erklärt hat sie nie etwas. Die Programmansprache zu ihrem spröden, heterogenen Werk hat sie tunlichst vermieden. In einem Video spielt ihr Kollege Kai Althoff den scharf recherchierenden Reporter und sie das trotzige Medienopfer, das keine Interviews gibt. Die Sequenz ist Ausschnitt aus einem Episodenfilm („Die kleine Bushaltestelle“), in dem die Künstlerin in mancherlei Rollen auftritt und doch nur die eine Rolle meint, die Rolle einer Künstlerin ohne Skript und Drehbuch, einer Künstlerin, die Regieanweisungen so wenig gelten lässt wie die geforderte Bühnenpräsenz und die gern selbst Mindesterwartungen an die öffentliche Verfügbarkeit schnöde enttäuscht.

Eine ziemlich stumme Künstlerin, jedenfalls im Vergleich zur Botschaftsbeseeltheit so mancher ihrer männlichen Kollegen. Irritiert hat schon immer, wie sie sich entzieht, wie sie nicht zuzulassen scheint, dass man sich an ihre Arbeit einmal gewöhnt, dass sie einem vertraut vorkommt. Entsprechend gilt ihr Werk als schwierig, sperrig, unzugänglich, für das Publikum zu flink in seinen beständigen Travestien, dem feministischen Diskurs viel zu unberechenbar.

Bodenlose Begriffe

Bei Künstlerinnen wie Rosemarie Trockel, Katharina Fritsch oder Katharina Sieverding meint man doch immer noch einen unverwechselbaren Werksound ausmachen zu können. Bei Isa Genzken gelingt das kaum. Welten trennen ihre Werkzyklen. Immer wieder hat sie neu angesetzt, sich neu begründet, mit unverbrauchten Formen und Zeichen überrascht.

Und so wechseln von Ausstellungsprojekt zu Ausstellungsprojekt die Tonarten, und nie ließe sich vorweg sagen, ob es diesmal nach Moll oder nach Dur hin klingt. Auf ganz eigene Weise wirken Isa Genzkens Inszenierungen zerfahren und konzis, zufällig und kalkuliert in einem, poetisch mäandernd, mögliche Bedeutungen umkreisend und akribisch darum besorgt, dass kein Begriff festen Boden findet.

Dabei war an großen, ehrenden Ausstellungen kein Mangel. Immer war es wie eine Springprozession von einem Kapitel zum nächsten. Bei allem Staunen hätte man nie zu sagen gewusst, was die Dinge zusammenhält. Vielleicht werden überhaupt erst jetzt, hier unter den fernen Kostbarkeiten des Liebieghauses, die versteckten Antriebe dieses Werks ein Stück weit deutlicher. Auch in der Nachbarschaft der alten Meister käme man schwerlich auf die Idee, dass es dieselbe Autorin ist, die sich da und dort dazwischendrängt.

Auf die stelenförmigen Figuren und schlanken Podeste voller starr blickender Köpfe reagiert sie mit ihren Hochhaus-Modellen, als seien es Skizzen für Skulpturen. Den wie Spielzeug aufgereihten Jesusknaben in der Mittelalter-Abteilung begegnet sie mit einer Assemblage aus Campingstuhl, zerfetztem Sonnenschirm, verwahrloster Puppe und riesenhaftem Streichholz. Da und dort lässt sie ihre Mindmaps an die Wand heften, auf denen sie Ausrisse aus Katalogen und Titelseiten von Magazinen zusammenklebt, dass es klingt wie Zwischenrufe.

Und so wird auf dem Weg durch die imposante Sammlung geradezu bezwingend anschaulich, wie unentschieden das Werk der Gastkünstlerin zwischen Reflexen und Reflexionen schwankt. Anders als in der hintergründigen Museumserzählung führt bei Isa Genzken kein plausibler Weg von der einen Arbeit zur nächsten. Immer wieder setzt sie irgendwo neu an, bricht ab, lässt die Dinge hin und her treiben und die Brüche gelten, betont das Rohe, Vorläufige und würde nie zulassen, dass etwas in der Form erlöst erschiene. Mit derselben stillen Emphase, mit der sie in ihren wie gebastelt aussehenden Skulpturen die Wolkenkratzer-Architektur bewundert, kann sie den Aggressor Putin zum Gegenstand einer Collage machen. Ein Werk, das die unheilbare Verletzung geradeso kennt wie die unstillbare Faszination.

Nennen wir es künstlerisches Streunen. Passt jedenfalls gut zur Obdachlosen-Anmutung nicht weniger dieser Arbeiten. Wohl ist es so, dass alles, was Isa Genzken je gemacht hat, nie über die Anspielung hinausreichen sollte und sich das dabei entstehende, entstandene Werk als ideales Selbstversteck erwies. Und nennen wir den Mehrwert, der dabei abgefallen ist, einen Ausweis künstlerischer Intelligenz, die nicht mehr auf den Endreim setzt und die Widersprüche nicht mehr in der gebundenen Form zu bereinigen sucht, einer Intelligenz, der in hohem Maße bewusst ist, dass alles längst gemacht, alles geschaffen ist, dass es töricht wäre, so zu tun, als gäbe es noch Neues zu erfinden, dass der verbleibende Weg also nur sein kann, drängende Fragen ans sinnlich Bestehende zu richten.

Dass all die Göttinnen und Götter im Haus und nicht einmal die nackten Jesusknaben eine Antwort auf die drängenden Fragen wissen und gelassen das sinnlich Bestehende ertragen, ist nichts weniger als ein kleines Wunder des Ausstellungsbetriebs.

„Isa Genzken meets Liebieghaus“, bis 31. August 2025, Frankfurt/Main

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