Die Plünderung jüdischen Kulturgutes durch die Nazis war der Auftakt zum Völkermord an den Juden in Europa.“ Daran erinnerte Deidre Berger, die ehemalige Direktorin des American Jewish Committee in Berlin, bei der Vorstellung einer Stiftung mit der etwas sperrigen Abkürzung JDCRP. Das Kürzel steht für Jewish Digital Cultural Recovery Project Foundation, deren Vorsitzende Berger nun ist. Das ambitionierte Vorhaben der Stiftung wurde am 8. April 2025 im Rahmen der (online weiter zugänglichen) Ausstellung „Decoding the Records of Cultural Plunder: AI, Linked Data, and Nazi-Era Looted Art“ in Berlin vorgestellt – am Vorabend des Internationalen Tags der Provenienzforschung.

Kulturraub im Holocaust: In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Rolle, die Plünderungen, Beschlagnahmungen und Diebstahl durch die Nationalsozialisten spielten, weithin ignoriert. Erst mit den Washingtoner Prinzipien – der 1998 getroffenen Übereinkunft von 44 Staaten, während der NS-Zeit beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren, deren rechtmäßige Eigentümer oder Erben ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden – hat sich die Provenienzforschung zu einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt. Sie untersucht etwa öffentliche und private Sammlungen, auch mit dem Ziel, Rückgaben im Sinne der Washingtoner Erklärung zu ermöglichen.

Provenienzforschung hat aber auch einen gesellschaftlichen Bildungsauftrag. „Fast vergessene Geschichten werden auf diese Weise zurück ins Leben gebracht“, mahnte deshalb der europäische Repräsentant der Jewish Claim Conference (JCC) Rüdiger Mahlo aus Anlass der Ausstellung. Schätzungsweise 70.000 Raubkunstgegenstände gebe es in Deutschland. Und die Biografien der Objekte wie die ihrer ursprünglichen Eigentümer sind noch lange nicht erforscht und erzählt.

Provenienzrecherche als Quellenforschung und Detektivarbeit

Der Internationale Tag der Provenienzforschung findet am 9. April 2025 zum siebten Mal statt. Sein Ziel ist es, Museen, Bibliotheken, Archive und andere Forschungseinrichtungen weltweit zu verbinden, öffentlich für die Wichtigkeit von Herkunftsrecherchen über Sammlungsgegenständen zu sensibilisieren und über die vielfach komplexen Objektbiografien aufzuklären.

Im Mittelpunkt der Provenienzforschung stehen Fragen nach unrechtmäßigem Erwerb und anderen Unrechtszusammenhängen. Wie sind fragliche Artefakte in Sammlungen gekommen? Wie gehen die heutigen Besitzer damit um? Die aktuelle Debatte um mutmaßliche NS-Raubkunst in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zeigt beispielhaft die Bedeutung von Provenienzforschung und dass noch viel aufzuarbeiten ist.

Arbeitsgegenstand der Provenienzforscher sind nicht nur die Objekte selbst, sondern Karteikarten aus Museumsinventaren, alte Briefe, Rechnungen und Notizen, Fotografien, Nachweise von Kaufs- und Verkaufstransaktionen, konkrete und unkonkrete Spuren. Provenienzrecherche ist hoch spezialisierte Detektivarbeit. Dabei will nun die digitale JDCRP-Plattform helfen. Sie stellt archivierte Informationen über jüdisches Kulturgut, das während der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust konfisziert oder geplündert wurde, online zur Verfügung.

Die Datenbank verwendet dafür eine generative KI-Software, um die Suche, die Verknüpfung und den Abgleich von Dokumenten zu erleichtern. Angefangen mit dem Museumsarchiv Jeu de Paume in Paris greift es dafür auf verschiedene Archive in Europa zurück, weitere sollen folgen. Die Nutzer sollen mit der Datenbank ein Handwerkszeug bekommen, um Erkenntnisse über die Herkunft, die erzwungene Veräußerung oder den Diebstahl sowie die mögliche Wiederbeschaffung fraglicher Objekte zu gewinnen.

Dokumente der Monuments Men

Im Zentrum der JDCRP-Plattform stehen Daten aus vornehmlich drei Informationsquellen zu geraubten Objekten: Dokumente der Täter, Dokumente der Alliierten, Dokumente der Opfer. Die Nazis haben in bürokratischem Eifer die eigenen Verbrechen ausführlich dokumentiert. Für die Plünderungen jüdischen Besitzes war vor allem der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg (ERR) zuständig. Von seinem Hauptquartier im Pariser Museum Jeu de Paume führte der ERR akribisch Buch über den organisierten Diebstahl.

Auch die Kunstbergungseinheiten der Alliierten Streitkräfte – am bekanntesten sind die Monuments Men, denen George Clooney als Regisseur und Schauspieler im gleichnamigen Spielfilm von 2014 ein Denkmal setzte – haben ihre Einsätze ausführlich dokumentiert. Physische Originaldokumente der Schoah-Opfer sind häufig verloren, aber es gibt Aufzeichnungen von Erinnerungen und amtliche Daten wie etwa Wiedergutmachungsanträge (die zurzeit vom Bundesarchiv digitalisiert werden).

Die Herausforderung: Wie können diese diversen Dokumente vergleichbar erfasst und erforscht werden? An dieser Stelle setzt nun die künstliche Intelligenz an. Ein Sprachmodell vergleichbar mit ChatGPT und eine Texterkennungssoftware soll die Dokumente lesen und in durchsuchbare Datensätze übersetzen können. Mit dieser Technologie wird eine Lücke in der Provenienzforschung geschlossen.

Laut Wesley Fisher, JCC-Forschungsdirektor und Co-Vorsitzender der JDCRP-Stiftung, existiere bislang ein „Vakuum in der historischen Recherche, das zu einem guten Teil auf derzeitige Schwierigkeiten beim Zugang zu Originalaufzeichnungen zurückzuführen ist.“ Mithilfe der künstlichen Intelligenz und der Unterstützung eines Netzwerks internationaler Partner könne das Projekt „dazu beitragen, das Schicksal von geraubten Gegenständen aus der Zeit des Holocausts und ihrer Besitzer zu rekonstruieren“, so Fisher. „Die Plattform kann diesen Diebstahl und die jüdische Vorkriegskultur, die dadurch fast ausgelöscht wurde, für die breite Öffentlichkeit wirksam zugänglich machen“.

Fisher und Berger betonten den Bildungsaspekt ihres Projekts. Die Kunsthistorikerin Meike Hopp, die als Professorin an der Technischen Universität digitale Provenienzforschung lehrt und gerade zum neuen Vorstand des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste berufen wurde, bekräftigt das. Als Beraterin der Stiftung konnte sie die neue Datenbank bereits mit ihren Studenten testen. Jetzt kommt es darauf an, dass sie immer weiter mit Dokumenten internationaler Archive gefüttert wird. Private wie institutionelle Provenienzforscher werden die neue Technologie jedenfalls schon bald testen wollen.

Erkenntnisse aus der Provenienzforschung sind die Basis für die Erfüllung der Washingtoner Prinzipien. Für die Rückgabe von identifizierter Raubkunst und geplündertem Kulturgut fehlt in Deutschland aber die rechtliche Grundlage. „Das lang erwartete Restitutionsgesetz gibt es noch immer nicht“, beklagte Rüdiger Mahlo – auch im Hinblick auf die neue Regierung in Berlin, deren Koalitionäre sich die Einführung des Gesetzes ins Sondierungspapier geschrieben hatten.

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