Kaum eine andere deutschsprachige Philologin vereint das Kluge und das Leichte so gekonnt wie sie: An Elisabeth Bronfen kann man lernen, dass man Kulturstudien immer mit seinen persönlichen Interessen verbinden sollte, dann werden leidenschaftliche Bücher draus. Ihr vielleicht Originellstes heißt „Nur über ihre Leiche“ und ist eine Studie über die Figur des weiblichen Opfers in Literatur, Oper und Film.

Bronfen wurde 1958 als Kind eines Amerikaners und einer Deutschen in München geboren, ihre Eltern hatten sich 1945 in Bayern kennengelernt, wo der Vater mit der US-Besatzungsmacht stationiert war. Deutsch und amerikanisch verlief der Lebens- und Ausbildungsweg der Elisabeth Bronfen, die auf der US-Militärbasis in München ihren amerikanischen High-School-Abschluss machte, später unter anderem in Harvard studierte (Anglistik, Germanistik, Komparatistik), eine Schauspiel- und Gesangsausbildung absolvierte (Mezzosopran) und 1993 als Professorin für englische und amerikanische Literatur an die Universität Zürich berufen wurde. Seit 2007 ist sie zudem Global Distinguished Professor an der New York University.

Die Kulturwissenschaftlerin Bronfen lebt in Zürich. Ihr aktuelles Buch behandelt „Shakespeare und seine seriellen Motive“ (S. Fischer). Neben Fachbüchern hat Bronfen auch schon einen Roman („Händler der Geheimnisse“) und ein Kochbuch („Besessen. Meine Kochmemoiren“) verfasst, denn sie kocht dreimal die Woche für Freunde. Von ihren Lese-Memoiren erzählt sie beim Zoom-Meeting. Mit ihrem Bildschirm öffnet sich eine sympathisch vollgepackte Bücherklause, an der Wand prangt ein Porträt von Judith Shakespeare, der fiktiven Schwester des Dramatikers; hergestellt für die laufende Ausstellung im Zürcher Literaturmuseum Strauhof, die Bronfen kuratiert hat.

Edith Nesbit: Das verzauberte Schloss

Die Autorin E. Nesbit (1858 bis 1924) war Mitglied der Fabian Society in England, also eine politische links stehende Frau, Anhängerin der sozialistischen Gruppe um William Morris. Ihr Kinderbuch „Das verzauberte Schloss“ („The Enchanted Castle“) ist ein Vorläufer von „Harry Potter“. Wie in ihren anderen Romanen sind die Kinder allein, nur eine französische Gouvernante passt auf sie auf, so sind sie auf sich allein gestellt, erleben Abenteuer. Und entdecken dabei Magisches. Das verzauberte Schloss ist allerdings nur bedingt verzaubert. Die junge Frau, die sich anfangs als Prinzessin vorstellt, ist gar keine Prinzessin. Doch es gibt einen magischen Ring und damit können die Kinder alles Mögliche anstellen, auch Dummheiten. Man merkt irgendwann, dass ein Teil des Schlosses selbst nur wegen dieses magischen Rings existiert. Die Geschichte spielt mit der Idee von Entzauberung und Verzauberung, weshalb sie auch für Erwachsene geeignet ist. Die markanten Illustrationen in dem Buch haben sich mir fest eingeprägt.

Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein

Noch in der Highschool habe ich – wie viele andere junge Frauen damals, in den 1970er-Jahren – Virginia Woolf entdeckt – und mich durch das gesamte Œuvre gelesen. Woolfs Text von 1928 wurde zu einem Manifest der Frauenbewegung, denn was ist seine Botschaft? Man braucht einen Raum, in den man sich zurückziehen kann. Man muss sich auch von der Welt zurückziehen können, von ihren ganzen Vorurteilen und Erwartungen, um selbst kreativ zu sein. Gleichzeitig, und das ist mir an diesem Manifest so wichtig, steht da der Satz: „We think through the mothers, if we are women“. Mich hat immer interessiert: Was waren meine weiblichen Vorfahrinnen? An welchen Künstlerinnen, Denkerinnen, Autorinnen möchte ich mich orientieren? Unter dieser Leitfrage habe ich an der Uni studiert und später auch unterrichtet. Women Studies und Feminist Studies waren wichtig für mich und mein Schreiben. Wiewohl ich mich nie nur auf Autorinnen konzentriert habe. Woolf entwickelt in ihrem Essay die Figur der Judith Shakespeare. Wenn Shakespeare eine Schwester gehabt hätte, hätte sie mit derselben Begabung wie Shakespeare mit großer Wahrscheinlichkeit Selbstmord begangen, weil Frauen ihre kreative Seite damals nicht ausleben konnten. Aber: Wenn wir weiterhin für sie arbeiten, dann entwickelt sich nachträglich die schöpferische Möglichkeit, die in ihr gesteckt hat.

George Eliot: Middlemarch

„Middlemarch“ ist ein Roman, den ich in meiner Studentenzeit in Harvard das erste Mal gelesen habe. Und seitdem immer wieder, denn „Middlemarch“ ist für mich wirklich das Beispiel par excellence, was man auf Englisch moral imagination nennt, also die Einbildungskraft, die eingesetzt wird, um Menschen zu Erwachsenen zu bilden, im besten Sinne des Wortes, dass sie lernen, gewisse positive Eigenschaften zu kultivieren. Und Exzesse in einer gewissen Weise zu bändigen. Eliot erzählt von frivolen Figuren wie Rosamund Vincey Lydgate, die muss am Ende des Romans nach London; das Dorf verlassen, in dem der Roman spielt, weil sie dort nicht hineinpasst. An der Heldin Dorothea wird hingegen deutlich: Es geht um die Idee der Gemeinschaft und ihre Ableitungen. Was Eliot unglaublich gut gelingt, ist einerseits eine ganze Palette an Figuren, die sie in einer unglaublichen psychologischen Komplexität schildert. Andererseits merkt man ihre ganz entschlossene Erzählerinnenstimme. Eliot hat hier ein klares aufklärerisches Projekt mit all den Widersprüchen, die sie selbst natürlich auch als Autorin im viktorianischen Zeitalter erfahren hat. Welche Verantwortung hat man den anderen gegenüber? Wie muss man an sich selbst arbeiten? In welchem Sinne darf man altruistisch sein? Wann ist Altruismus eine Form von Egozentrik? Vieles davon ist, losgelöst vom „Middlemarch“-Setting, bis heute gültig: Welches Leben will ich leben? Was heißt es, ein gutes Leben zu leben? Wie muss ich mich den anderen anpassen? Wo muss ich mich durchsetzen?

Herman Melville: The Confidence-Man

Ich hege eine große Liebe für Melville. Schon wegen „Moby Dick“. „Confidence-Man“ habe ich das erste Mal vermutlich für meine Promotion gelesen. Es ist sozusagen der Roman, an dem festgemacht werden kann, was das spezifisch Amerikanische an der Hochstapelei ist. Bei den Amerikanern heißt es ja Confidence game, also man schenkt jemandem Vertrauen. Im Gegensatz zum deutschen ‚Hochstapler‘ geht es nicht unbedingt darum, finanziell aufzusteigen, sondern darum, mit Vertrauen zu spielen. Um Vertrauen als eine Währung, diese ganze amerikanische Faszination für Wahrheit und Lüge, fürs Vorgaukeln von Sachen, von denen diejenigen, denen man es vorgaukelt, bereits ahnen, dass etwas nicht stimmt. Vertrauen und Zweifel sind also eng verknüpft. Melville lässt seinen Confidence-Man auf einem Steamboat den Mississippi runterfahren. Der Con Man nimmt verschiedene Gestalten an, um zu zeigen, wie bereitwillig die Amerikaner Leuten vertrauen, obwohl sie oft die Vermutung hegen: Werde ich jetzt betrogen? Und manchmal möchte man ja geradezu betrogen sein. Die Brisanz dieser Lebenseinstellung liegt seit der ersten Wahl von Donald Trump auf der Hand.

Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe

Roland Barthes hat mich von allen poststrukturalistischen Denkern am nachhaltigsten geprägt. Als ich Anfang der 1990er-Jahre nach Zürich kam, wurde hier kaum Literaturtheorie unterrichtet. Ich habe dann mehrere Vorlesungsreihen gemacht, unter anderem zu Roland Barthes. In seinem Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ kommt für mich alles, was seine Methode auszeichnet, am besten zusammen: In Gegensätzen denken, Strukturen analytisch herausarbeiten, die durchaus mit Vergleichen zu tun haben und die dann mit psychoanalytischen Konzepten anreichern, um seine Liebe für Literatur, Kunst oder Musik zu erklären. Und das Ganze darf fragmentarisch sein, sowohl, was den Analyse-Gegenstand anbelangt als auch die Textgestalt der Analyse. Diese vergleichende Bruchstück-Methode hat mich inspiriert. Ich habe dafür den Begriff des Crossmapping geprägt – die Idee, dass man aufgrund von Ähnlichkeiten, die man entdeckt, Differenzen herausarbeitet. Dass man dabei von Fragmenten ausgeht, ist etwas, das ich von Barthes gelernt habe.

Goethe: Die Wahlverwandtschaften

Dieses Werk von Goethe habe ich erst im Zuge meiner Arbeit am Nachtbuch („Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht“, Anm. d. Red.) so richtig schätzen gelernt. Der Roman hat mich regelrecht verzaubert, wegen seiner Sprache – was für eine präzise Sogkraft! – und wegen seiner Figurenkonstellation. Charlottes Obsession, dass man den Tod verdrängen muss und deswegen die Gräber einfach umsiedelt, weil sie dann schöner in die Gartenlandschaft passen. Dann so Details wie die Beobachtung, dass alle wirklichen Sachen immer in der Nacht oder in der Dämmerung stattfinden und wie das Licht die Figur der Ottilie verändert. Und überhaupt diese vier Figuren. Einerseits ist es ein Gedankenexperiment von Goethe, andererseits wird es gefüllt durch szenische Beschreibungen, Stimmungen und die sehr subtile, nuancierte Art, wie die Figuren sich im Zusammenspiel miteinander langsam entfalten. Weil ihnen jede überbordende Sentimentalität fehlt, lesen sich Goethes „Wahlverwandtschaften“ bis heute sehr modern. Im Gegensatz zum „Werther“.

Emily Dickinson: Gesammelte Gedichte

Eine Poetin auf dieser Liste möchte sein, und es kann nur Emily Dickinson sein! Sie schreibt kurze Gedichte mit einem wunderbaren Sprachwitz: „I'm Nobody! Who are you? Are you – Nobody – too? Then there's a pair of us!“. Das sind kleine Bilder, die einen sofort ergreifen. Ich war ja früher, in einem anderen Leben, auch Opernsängerin und es gibt eine Vertonung von einigen Dickinson-Gedichten, die ich mit großem Gusto gesungen habe. Was mir an Emily Dickinson so imponiert: Die hat ja wirklich im Stillen geschrieben, ist posthum veröffentlicht und so richtig erst im 20. Jahrhundert berühmt und ikonisch worden, und schreibt diese sehr persönlichen Gedichte, in denen sie über Tod, Krankheit und Schmerzen nachdenkt, während um sie herum der Amerikanische Bürgerkrieg wütet. Man kann wirklich sagen, das sind Gedichte, in denen sie sozusagen ihren persönlichen inneren, geistigen Bürgerkrieg in dieser kleinen Form immer wieder durchspielt.

Nigella Lawson: How to eat

Das ist das erste Buch von Nigella Lawson. Und ich kann mich noch genau erinnern, wer es mir geschenkt hat, weil ich dieser Freundin so eindrücklich von meiner Liebe für Kochbücher erzählt hatte. Ich besitze viele, viele Kochbücher. Doch mir gefiel an der Idee von „How to eat“, dass es hier nicht nur ums Kochen geht, sondern auch darum, wie man essen will. Lawson stellt die Idee der Lust in den Vordergrund. Dadurch ist dieses Buch sehr narrativ. Man findet viele Rezepte, die man nachkochen kann, und die auch sehr gut sind. Aber es gibt erstaunlicherweise kaum Bilder von den Speisen. Es ist eines der ersten Bücher, in denen man eher Objekte sieht, die Stimmungen aufrufen. Beim Lesen von Lawson kommt man in eine andere Welt, insofern könnte man sagen: Lawson ist wie E. Nesbit, nur dass es nicht um ein Kinderbuch mit Magie geht, sondern um ein Erwachsenenbuch und den Zauber, den man mit Kochen produzieren kann.

Barbara Vine: Die im Dunkeln sieht man doch

Es gab eine Zeit, da habe ich viele Krimis gelesen und immer wieder Seminare über Kriminalliteratur gegeben. Ich lese psychologische, kulturkritische Krimis – von Klassikern wie Raymond Chandler ausgehend – als Symptome für kulturelles Empfinden. An Barbara Vine, die auch als Ruth Rendell schreibt, interessierte mich die psychologische Raffinesse. Sie schildert die merkwürdige Kriegs- und Nachkriegszeit in England, die Bombenangriffe, die Rationen, aber auch die Tabus dieser Zeit. Und erforscht, warum die Leute nicht miteinander sprechen, warum sie ihre Geheimnisse für sich behalten. Das fand ich als Gedankenspiel sehr präzise für diese Epoche. Und deswegen war Vine eines meiner Vorbilder für meinen eigenen Roman „Händler der Geheimnisse“, der in der deutschen Nachkriegszeit spielt.

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem

Ein Klassiker, 1961 als Reportage im „New Yorker“ und 1963 als Buch erschienen. Richtig gelesen habe ich es erst vor ein paar Jahren und war erstaunt, wie zeitgemäß das ist. Ich glaube, dass man den Begriff von der „Banalität des Bösen“ oft falsch versteht. Arendt meint in keiner Weise, dass die Bösartigkeit von Eichmann banal sei, sondern sie beobachtet, wie sehr er in einer klischierten Poesiealbumsprache gefangen ist. Ich finde, das sollten wir uns alle noch mal zu Herzen nehmen. Als Warnung davor, in einer klischierten Sprache zu leben und somit die eigene Verantwortung für das, was man tut, gar nicht wahrnehmen zu können, weil man keine Worte hat, etwas zu begreifen.

Auch in unserer heutigen Kultur wirken wir oft gefangen in Worthülsen, die gar nichts bedeuten. Eichmann produziert seine Sprache mit völliger Gedankenlosigkeit, mit jeglichem Fehlen an Imagination, das ist Arendts Hauptvorwurf an ihn. Auch wir können immer wieder aufs Neue feststellen, dass unsere bürokratische Sprache bis hin zu diesen Exceltabellen, in denen man immer nur so und so viel Zeichen eingeben darf und mehr nicht, eine gewisse Blindheit gegenüber der Welt und unseren Mitmenschen produziert.

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