Die Jugend ist eine eigenartige Zwischenzeit. Mit einem Bein steht sie noch in den Spielen der Kindheit, das andere schwingt sie schon ins Erwachsensein, oft sogar mit zu viel Schwung. So streift in „Mit der Faust in die Welt schlagen“ der halbwüchsige Philipp mit einem Schulfreund durch ein verlassenes Industrieareal. Voller Übermut recken sie ihre Hälse aus den Fenstern und schreien ihren Trotz heraus, mit Worten, die sie aus der Schule kennen. Wer nervt, wie die Lehrer, ist schwul. Die Jungs steigern sich hinein und setzen immer noch einen drauf: „Hitler ist schwul! Sieg Heil!“ Wie albern. Oder?
Man kann sich bei diesem Film nie ganz sicher sein. Und das ist eine seiner großen Stärken, weil er zeigt, wie aus dem diffusen Begehrensdurcheinander heranwachsender Menschen langsam und aufhaltbar Verhaltensmuster werden, die sich unter dem Druck ungreifbarer Verhältnisse bilden. Einer wie Philipp, gespielt von Anton Franke, probiert noch halb im Spiel aus, was kurz darauf schon Ernst wird. Und dann trifft es seinen Freund, den er als „schwul“ abkanzelt, weil er nun neue Freunde hat, die Hitler nicht schwul finden, gerne „Sieg Heil!“ grölen und Ausländer – oder wen sie noch gerade für volkskörperfremd halten – aus dem Land jagen wollen. Das ist nicht mehr so albern.
Mit seinen neuen Freunden jagt Philipp einmal eine Telefonzelle in die Luft, mit Silvesterböllern. Später brennt seine alte Schule, die zum Flüchtlingsheim werden soll. „Mit der Faust in die Welt schlagen“ spielt in der ostsächsischen Provinz, gedreht wurde in Görlitz und der Oberlausitz. Es ist eine Geschichte der 2000er bis ins Jahr 2015, als auch der kurze Sommer der Willkommenskultur nicht mehr verdecken konnte, was in den „strukturschwachen Regionen“ brodelte: eine durch Veränderungsschocks erschöpfte und in Ressentiments geflüchtete Gesellschaft, die für weitere Zumutungen und Belastungsproben durch „Wir schaffen das“-Parolen nicht mehr zu ermuntern war.
Als Zuschauer folgt man Philipp und seinem jüngeren Bruder Tobias (Camille Moltzen). Die Kamera von Florian Brückner filmt den jugendlichen Protagonisten oft über die Schulter, sie nimmt deren schwankenden und suchenden Schritt in einer Welt ohne elterlichen Halt auf, um dann wieder ihre Gesichter zu zeigen, die zwischen hoffnungsvoller Erwartungsoffenheit und durch vergebliches Wünschen erlerntem Trotz changieren. Gemeinsam durchstreifen sie Landschaften, in denen nur der Raps knallgelb blüht, nicht aber die Industrie, die brach und verlassen liegt. Es ist auch eine neugierige Reise durch die verblühten Gefühlslandschaften von Ostdeutschland.
Die Musik von PC Nackt, der sich als Theaterkomponist in Inszenierungen von Sebastian Hartmann oder Claudia Bauer einen Namen gemacht hat, ist ein tastendes Suchen auf dem Klavier. Langsam fügt sich in der Welt der Töne einer zum anderen, zum Muster. So entsteht ein Spiegel der Innenwelt der Jugendlichen, ihrer Gemeinschaftssuche zwischen zweifelnder Orientierungslosigkeit und überschießender Euphorie. Das Entscheidende ist, dass die Brüder bei ihrem Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden, auf die Eltern verzichten müssen. Die sind nämlich mit sich beschäftigt, sind abwesend.
Mahnmal der Aufstiegshoffnungen
Anja Schneider und Christian Näthe spielen das Musterpaar einer protestantischen Ethik. An erster Stelle steht stets die Arbeit: Sie schiebt als Krankenschwester eine Nachtschicht nach der anderen, er ist – bis zu seiner Entlassung – als Elektriker häufig auf Montage unterwegs. Für sich und die Kinder will man eine kleine, neue, sichere Welt bauen: Eigenheim statt Plattenbau. Der im Garten stehende Betonmischer ist ein Mahnmal der Aufstiegshoffnungen, begraben von den alltäglichen Nöten. Und der mysteriöse Uwe (Meinhard Neumann) ist ein warnendes Beispiel, wie tief man fallen kann. „Uwe ist entlassen worden“, heißt es beim Kaffeeklatsch. „Ja, das sieht man.“ Später sieht man Uwe gar nicht mehr, man bekommt nur noch seine Todesnachricht.
Einmal steht die Mutter vor dem Betonmischer im Garten und ihr fällt nur noch dieser eine Satz ein: „Ich kotze.“ Diese Frau, die so viel in sich reingefressen hat, die Nachtschichten, das Fremdgehen ihres Mannes mit der Nachbarin, den Tod ihres Vaters, will alles nur noch rauslassen. Doch es bleibt bei dem kurzen Ausbruch, schon geht’s weiter. Aber eigentlich geht es nicht mehr weiter. Und ihr Mann? Er gibt sich, wenn nicht gerade der Nachbarin, dem Alkohol hin. Die Arbeitslosigkeit und der Frust graben sich tiefer in seine Seele.
„Mit der Faust in die Welt schlagen“ ist ein mehr als beachtliches Kinodebüt der Regisseurin Constanze Klaue, die auch das Buch verfasst hat. Als Vorlage diente ihr der 2018 veröffentlichte Roman von Lukas Rietzschel, mit dem der in Ostsachsen aufgewachsene Autor zum „Ostbeauftragten der deutschen Gegenwartsliteratur“ wurde, wie er einmal selbstironisch sagte. Klaue übersetzt die knappe Sprache Rietzschels in schwebende Bilder, die psychologischen und sozialen Realismus verbinden. Der Film, der auf der Berlinale seine Premiere feierte, ist ein feinfühliges Coming-of-Age- und subtiles Gesellschaftspanorama. Weder thesenüberfrachtet noch belehrungsfixiert, ist diese ostdeutsche Éducation sentimentale unbedingt sehenswert.
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