In der Literatur sind Zweitklassiker manchmal einflussreicher als die kanonischen Klassiker. Beispiele? Mary Shelleys Roman „Frankenstein“ oder Robert Louis Stevensons Novelle „Doktor Jekyll und Mr. Hyde“. Beide mögen am Rande der Trivialliteratur balancieren und sind doch bis heute lebendig geblieben, denn in ihnen zeigen sich die kollektiven Wünsche, Ängste und Psychopathologien ihrer Epoche unmittelbarer und aussagekräftiger als in den klassischen Meisterromanen des 19. Jahrhunderts.

„Frankenstein“ war das Produkt des verregneten Sommers 1816 am Genfersee, als Lord Byron und sein Freundeskreis aus Langeweile und zum Zeitvertreib aus dem Stegreif Gruselgeschichten erfanden. Mit ihrer Story über die monströse künstliche Kreatur des Forschers Frankenstein gelang der 19-jährigen Mary Shelley ein Zufallstreffer. Ihr Schauerroman wurde mit der Zeit ein Welterfolg und gilt heute als ein Hauptwerk der Schwarzen Romantik. Nebstbei begründete die junge Ehefrau des Dichters Percy Bysshe Shelley damit das Genre der Science-Fiction, wofür sie 2004 posthum in die „Fantasy Hall of Fame“ aufgenommen wurde.

Mit ihrem zweiten Roman „Mathilda“ hingegen, den sie drei Jahre später in Italien schrieb, hatte Mary Shelley weniger Glück. Erzählt wird darin von einem Vater, der seiner jungen Tochter sein inzestuöses Begehren gesteht und danach aus Scham Selbstmord begeht, worüber das Mädchen derart verstört ist, dass es nur noch sterben will. Der Form nach ist der Roman ein großer Bekenntnisbrief: Darin offenbart Mathilda auf dem Totenbett ihrem mitfühlenden Dichterfreund Woodville ihr tragisches Geheimnis, ehe sie an der Modekrankheit der romantischen Literatur stirbt – der Schwindsucht.

Die Autorin hatte die Reinschrift an ihren Vater, den Verleger und Sozialphilosophen William Godwin, nach London geschickt, doch der riet von einer Veröffentlichung entschieden ab. Die Reinschrift gilt als verloren, es bedurfte detektivischer Archivarbeit, um den Roman aus Notizbüchern und einzeln aufgefundenen Seiten zu rekonstruieren. 1959 ist „Mathilda“ erstmals im Original erschienen, die erste deutsche Übersetzung legt nun Stefan Weidle vor.

Autobiografisch oder erfunden?

Der Roman sorgte seinerzeit für Debatten unter Literaturhistorikern: Autobiografisch oder erfunden? Die Anhänger einer autobiografischen Lesart identifizierten die Romanfiguren von Vater und Tochter mit Godwin und Mary Shelley. Als Beleg galt ihnen die dritte Hauptgestalt des Romans, der romantische Dichter Woodville, in dem man tatsächlich eine idealisierte Version von Percy Bysshe Shelley erkennen kann, denn die Autorin stattete die Figur mit manchen biografischen Eckdaten ihres Ehemanns aus und mischte zudem echte Zitate aus Shelleys Werk in ihren Erzähltext.

Heute gilt der Roman den meisten Literaturhistorikern eher als ein Werk der Fiktion – eine Deutung, auf die sich auch der Übersetzer Weidle festlegt. Demnach war Inzest ein gängiges Thema der zeitgenössischen Literatur und findet sich nicht nur im Werk Lord Byrons, sondern beherrscht auch Shelleys Versdrama „The Cenci“ über einen Vater-Tochter-Inzest, geschrieben parallel zu Marys „Mathilda“.

Gleichwohl sind vielfältige Bezüge zu Mary Shelleys eigenem Leben nicht zu übersehen. Wie im Roman war auch die Mutter der Autorin, die berühmte Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, kurz nach der Geburt des Kindes gestorben. Und wie im Roman lebte die halbwüchsige Mary einige Zeit in Schottland, wohin ihr Vater sie geschickt hatte – in der Realität zu einer Pflegefamilie, im Roman zu ihrer lieblosen Tante. Selbstmord, versuchter Selbstmord und Tod durch Ertrinken finden sich als Motive wie auch als Ereignisse in Mary Shelleys engerem Lebenskreis.

Doch es ist vor allem die den ganzen Roman imprägnierende Grundstimmung einer empfindsamen Schwermut, die das Werk mit der Autorin verbindet. Gekleidet in den zeittypischen exaltierten Stil des Affekt-Überschwangs lässt sich Mary Shelleys eigene Gefühlslage erkennen – Trauer und Depression nach dem Tod ihrer beiden Kleinkinder und Vereinsamung inmitten der praktizierten erotischen Freibeuterei ihres Freundeskreises, an der sie nicht teilhatte. Dafür – und nicht wegen des vermeintlichen Skandalons – lohnt die Lektüre von „Mathilda“.

Mary Shelley: „Mathilda“. Aus dem Englischen von Stefan Weidle. Pendragon, 196 Seiten, 22 Euro

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