Oliver Lovrenski erzählt von der brutalen Realität in Oslos Brennpunktvierteln, wo Drogen und Gewalt zum Alltag gehören. Seinen Debütroman "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann" schreibt er teilweise auf dem Handy. Das Buch wird weltweit zum Bestseller.
Wenn der Stoff knallt, wird alles erträglicher. Egal, ob Koks oder Speed, LSD oder Ecstasy, Hasch oder Wodka: Hauptsache Rausch. Denn der hilft dabei, abzuschalten und zu vergessen; zu vergessen, dass das Jugendamt ihnen im Nacken sitzt, dass ihre Väter Säufer, Schläger oder gar nicht erst da sind, dass die Lehrer nicht an sie glauben. Sie - das sind Ivor, Jonas, Arjan und Marco, um die sich der Debütroman des norwegischen Autors Oliver Lovrenski dreht. "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann" heißt der und handelt von vier Freunden. Vier Freunde, die in den Straßen von Oslos Sozialbauvierteln zuhause sind und versuchen, durch das eigene Erwachsenwerden und ihren gewaltvollen Alltag zu navigieren.
Denn der besteht nicht nur aus High sein, Schule schwänzen und bei McDonald's rumlungern. Er besteht auch aus Prügeleien, Messerstichen und Schießereien. Ivor und seine Jungs sind nämlich nicht nur Konsumenten, sondern auch Dealer. Oder "Plugs", wie sie es nennen. Angefangen hat alles mit ein paar Gramm, doch Schritt für Schritt wurden die Deals größer und führten die Freunde in immer gefährlichere Kreise. Dass man mal ein Messer in den Bauch bekommt, gehört für sie irgendwann zum Business dazu. Die allererste Messerwunde ist allerdings etwas Besonderes und gleicht einem Ritterschlag. "Straßen-Konfirmation" nennen sie das.
Zwischen all den Drogentrips, Polizeieinsätzen und Gewaltexzessen sind die vier aber auch ganz normale Jugendliche. Sie verlieben sich in Mädchen oder Jungs, liegen sich vor Herzschmerz weinend in den Armen und schmieden gemeinsam Zukunftspläne. Pläne, wie sie es aus den Blocks herausschaffen und sich ein besseres Leben aufbauen können: Job, Frau, Kinder, ein Haus im Grünen.
Und manchmal dürfen sie sich sogar wie Kinder fühlen. Zum Beispiel, wenn sie bei Jonas' Oma zum Waffeln essen eingeladen sind. Dann reißen sie sich zusammen, um "nicht rumzusauen". Denn Jonas liebt seine Oma und die anderen tun es auch. Weil sie sehen, wie glücklich Jonas bei seiner Großmutter ist. Und weil sie bei Jonas' Oma zur Ruhe kommen können. So verleiht Lovrenski seinen Figuren Vielschichtigkeit und Zerbrechlichkeit, anstatt sie einfach wie brutale Kleinkriminelle darzustellen. Er gewährt einen Blick hinter die harten Gangster-Fassaden seiner Protagonisten, die von Kindheitstraumata, Verlusten und Diskriminierungserfahrungen geprägt sind.
Nach dem Essen spielen sie alle noch eine Runde Kniffel mit Jonas' Oma und wollen eigentlich gar nicht weg. Doch sie müssen. Die Zeit zum Durchatmen ist knapp. Weil die Pflicht ruft: neuen Stoff besorgen.
Roman teils auf Handy geschrieben
Und auch dem Lesepublikum werden kaum Verschnaufpausen gewährt, denn Lovrenskis Stil ist rasant und zackig. Ein Ereignis reiht sich an das nächste. Wie sein deutscher Verlag Hanser Berlin mitteilt, hat Lovrenski sein Romandebüt teilweise auf dem Handy geschrieben. Und tatsächlich erinnert das Buch, ohne Punkte und komplett kleingeschrieben, an eine Mischung aus Text-Nachrichten, Rap-Lyrics und berauschten Gedankenströmen. Wie das klingt? In etwa so: "wir verbringen den tag mit para und rausch, meistens g alk speed, paar mal die woche auch molly oder kristall oder pappe keta pilze 2cb koks oder irgendwas anderes".
Diesen Sound einzufangen und ins Deutsche zu übertragen, ist Übersetzerin Karoline Hippe grandios gelungen. Zugegeben, es braucht etwas Zeit, um in den Text reinzukommen und sich in die Sprachwelt von Ivor, Marco und Co fallen zu lassen. Doch schon nach wenigen Seiten steckt man mittendrin im Sprachrausch und hat kaum eine andere Wahl, als sich mitreißen zu lassen.
Und wer während der Lektüre Verständnisprobleme hat, kann glücklicherweise zum Glossar am Ende des Buches blättern. Dort wird nämlich erklärt, was ein "tishar" oder eine "chaya" ist, sodass sich auch folgende Passage problemlos entziffern lässt: "bist du die chaya von ivor, haben die gefragt, nein, lüg nicht, und dann hat der eine tishar sein messer gezogen und gesagt, überleg dir gut mit wem du dich abgibst, wallah".
Norwegens Literatur-Shootingstar
Wie seine Charaktere kommt auch Lovrenski aus Oslo und ist dort aufgewachsen. Nur eben nicht in einem der Brennpunkt-Viertel. Anders als von Verlagen und Presse häufig geschrieben, sei sein Romandebüt nicht autobiografisch, erzählt der Autor im Interview mit der "Zeit". Er kenne die Problembezirke der Stadt gut und verstehe die Gefühle seiner Protagonisten. Letztlich sei das meiste aber Fiktion. Er habe vieles erfunden, "damit es eine gute Geschichte wird".
Dass ihm das offenbar gelungen ist, zeigt sich an dem kometenhaften Aufstieg des neuen norwegischen Literatur-Shootingstars. Als "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann" auf Platz eins der norwegischen Bestsellerliste landet, ist Lovrenski gerade einmal 19 Jahre alt. Sein Buch wird mit dem Norwegian Booksellers' Prize und dem Oslo City Artist Prize ausgezeichnet und weltweit in 15 Sprachen übersetzt. Im "Zeit"-Gespräch verrät der norwegische Literatur-Shootingstar, dass auch eine Fernsehserie geplant sei. Außerdem feiere die Theater-Adaption seines Buches bald Premiere in Oslo. Das sei das "Scheißbeste".
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