"Es ist 1996, meine Freundin ist weg und bräunt sich …" Nein, es ist 2006 und Christoph Kramer ist noch kein Fußballprofi oder gar Weltmeister. Aber er hat auch noch keine Freundin. Das wurmt ihn, einen Sommer lang. Den heißesten Sommer aller Zeiten.
In meinem Bücherregal stehen einige fußballerische Leckerbissen: Es gibt Werke zu den "Schlappekickern" vom Main, zu den "Eisernen" aus Köpenick. Es finden sich Raritäten wie "Das Wunder von Castel di Sangro" oder auch "Eine Saison mit Verona" von Tim Parks. Kladden über Ronaldo und Messi dürfen genausowenig fehlen wie die beiden "Fußball-Bibeln": "Fever Pitch" von Nick Hornby oder Ronald Rengs "Der Traumhüter". Und dann wären da noch diverse Autobiografien, mal selbstverfasst wie "Halbzeit" von Uli Stein, mal kongenial aufgeschrieben wie "Miro" von Ronald Reng. Nun steht ein weiteres Buch in diesem Bereich: "Das Leben fing im Sommer an" von Christoph Kramer.
Christoph Kramer? Genau, der Mittelfeldspieler, der mit Deutschland 2014 in Brasilien Fußball-Weltmeister wurde. Der Christoph Kramer, der bis zum Ende der Saison 2023/2024 noch in der Bundesliga für Borussia Mönchengladbach kickte. Genau jener Christoph Kramer, der schon während seiner aktiven Zeit und auch weiterhin als TV-Experte mit Humor und Fachkenntnis gleichermaßen glänzt. Und nicht zu vergessen: Der Christoph Kramer, der im Podcast "Coppa TS" von Tommi Schmidt als einer von mehreren Co-Hosts auftritt und aus seinem Leben rund um den Fußball plaudert. Unterhaltsam, witzig, geradeheraus.
Und genau so fällt auch sein erstes Buch, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch und Argon, aus. Achtung, Spoiler! Zwei Dinge dürften dabei so sicher sein, wie dass die Bayern in diesem Jahr wieder die Meisterschale nach München holen: "Das Leben fing im Sommer an" wird nicht das letzte schriftstellerische Werk Kramers gewesen sein. Und: "Das Leben fing im Sommer an" ist kein Fußballbuch!
Der Ball rollt anderweitig
Kramers Erstling befasst sich mit dem Sommer 2006. Der war, wie alle wissen, nicht nur heiß, sondern auch ein absolutes Märchen. Ganz Deutschland schmückte sich mit Schwarz-Rot-Gold und hatte durchweg gute Laune. Auch Kramer hatte die und das obwohl er gerade bei Bayer Leverkusen als Jugendlicher vor die Tür gesetzt wurde: zu schmächtig für ein weiteres Engagement. Seiner späteren Karriere tat das keinen Abbruch.
Kramer hatte gute Laune, weil er sein Leben genoss, als Schüler, der gerade die 10. Klasse abschließt, und für den es nicht nur den Fußball gibt. Er genießt die Zeit mit seinen besten Freunden Johnny und Salvo. Der eine etwas dick, aber eine Type vor dem Herrn. Der andere mit Feinripp, Bauchtasche und Kippe hinterm Ohr ebenfalls ein "BFF" wie er im Buche steht. Die drei quatschen, witzeln, philosophieren. Doch während Johnny schon eine Freundin hat, ist "Chris noch auf der Suche. Wobei, stimmt nicht ganz. Die Auserwählte gibt es schon, sie weiß nur nichts von dem Jugendlichen mit Pickeln im Gesicht, einem Poldi-Trikot am Körper und einem Duschtuchhalter im heimischen Badezimmer, der eine Pluto-Nase ist. "Debbie hatte lange blonde Haare, von April bis Oktober Sommersprossen und Augen, die sich zwischen grün und blau nicht entscheiden konnten. Meistens trug sie einen Haarreif, und ja, ich hatte Bilder von ihren 'Hello Kitty"-Tangas, die manchmal über dem Bund ihrer Jeans aufblitzten, für immer in meinem Kopf gespeichert."
Kramer will eine "echte Freundin", eine, in die er verliebt ist und mit der er über alles reden kann. "Und die ich natürlich küssen durfte." Doch bevor es dazu kommt, müssen Chris und Johnny erst auf die Party von Ron Scheler, der 19 wird, obwohl auch er die 10. Klasse besucht. Nachfragen zu dieser offensichtlichen Diskrepanz lächelt Ron immer weg. Auf der Party passiert es dann: Erst tanzen Debbie und Chris, danach liegen sie auf dem Ascheplatz des Vereinsheims auf dem Boden, schauen in die Sterne. Geküsst wird nicht. Dafür geht es am nächsten Abend ab ins Kino, bei "Nachts im Museum" soll es passieren. Das ist Chris' Plan. Gut, dass sie allein im Kinosaal sind.
Traumtor!
Haben sie es getan? Haben sie sich geküsst? "Das beste Gefühl meines Lebens!" Hat Chris seine erste Freundin? "Ein triumphierendes Gefühl übernahm meinen Körper. Ich spürte es: In diesem Augenblick, am 2.6.06 um 23.23 Uhr hatte ich, Christoph Kramer, endlich meine erste Freundin gefunden."
Aber auch im märchenhaften Sommer 2006 und im Fall von Christoph Kramer ist der Teufel ein Eichhörnchen. Er holt den bis über beide Ohren verliebten und überglücklichen 15-Jährigen unvermittelt von dessen Wolke sieben herunter. Und ehe es sich Chris versieht, sitzt er als Fahrer ohne Führerschein in einem alten Toyota Corolla. Er und Johnny wollen in die große Stadt, aus Frust, nach Düsseldorf. Auf ihrem Ausbruchs-Roadtrip gabeln sie zwei Ninas auf, Chris sieht eine Prostituierte, läuft einem verschwitzten Nazi-Pärchen und einer Koks-Nase über den Weg, trinkt seinen ersten Martini - gekonnt gemixt und mit Olive -, muss mit Johnny Hals über Kopf aus einer Location fliehen, die dem "Titty Twister" aus "From Dusk Till Dawn" ein wenig ähnelt, und findet sich letzten Endes völlig durchnässt im Matsch wieder.
Das ist Christoph Kramers Sommer 2006, der Sommer, in dem sein Leben anfing, und das alles macht sein Buch zu einem Coming-of-Age-Abenteuer der allerbesten Art. Die knapp sechs Stunden Spielzeit des von Christoph Maria Herbst brilliant vorgetragenen Hörbuchs vergehen wie im Flug, wie die erste Halbzeit beim WM-Halbfinale 2014 gegen Brasilien. "Ein Statement für die Ewigkeit" heißt es nach dem Spiel.
Das gleiche gilt auch für Kramers Erstling. Die gute Laune ist immer mittendrin, nie nur dabei. Sie wohnt Kramer inne, ist ein fester Bestandteil seiner selbst - egal, welche Zweifel ihn auch plagen. Damals waren es die pubertären Pickel, heute ist es die Tatsache, dass er, zwar aus seiner Sicht topfit, noch erstklassig Fußball spielen könnte, sich aber kein Verein findet, der Kramers Klasse, Erfahrung und Standing in seinen Reihen haben möchte. Vielleicht ist das gut so, denn dann kann er sich neben dem Trainerschein auch weiterhin dem Bücherschreiben widmen. Es gibt bestimmt noch viel zu erzählen aus dem Leben Kramers, vielleicht von der Fußball-WM 2014? "Das Leben fing im Sommer an" bleibt bis dahin im Fußballbuch-Bereich meines Bücherregals. Direkt neben "Der Traumhüter", "Miro" und "Fever Pitch."
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