Eine zutiefst gläubige Tartarin, geboren am 24. Oktober 1931 in Tschistopol. Die bei Hamburg lebte und von dort noch zuletzt hochbetagt den „Zorn Gottes“ losdonnern ließ. Eine kleine, starke Frau in der eher schütteren Riege der Gegenwartskomponistinnen, die viel gespielt wurde, seit den Achtzigerjahren bei großen Orchestern populär war, die so exotische Instrumente wie das Knopfakkordeon Bajan erklingen ließ, aber auch von Geigenweltstars wie Gidon Kremer oder Anne-Sophie Mutter um Uraufführungen gebeten wurde. Das alles war Sophia Gubaidulina, die politisch einiges durchmachen musste, sich aber nie verbiegen ließ, stets im orthodoxen Christentum Sinn und Trost, vor allem auch Inspiration für ihre ganz eigene, auch eigensinnige Musik fand.
Sofia Gubaidulina studierte Komposition und Klavier am Konservatorium von Kasan und führte bis 1963 ihre Studien in Moskau fort. Als Studentin wurde sie mit einem Stalin-Stipendium ausgezeichnet. Später wurde ihre Musik als „pflichtvergessen“ bezeichnet, Dmitri Schostakowitsch ermutigte sie, ihren „Irrweg“ fortzusetzen. In den Siebzigern gründete sie das Ensemble Astreja, das auf Instrumenten der Volksmusik improvisierte. Ihre Werke waren in der Sowjetunion verboten, weil sie nicht den Vorstellungen des Sozialistischen Realismus entsprachen. Deshalb zog sie 1992 nach Deutschland.
Die Gubaidulia komponierte ungefügt und schroff, kantige Klangflächen krachten da aufeinander. Aber ihre Musik war auch zart, feingesponnen, am Rande des Unhörbaren, poetische Inseln in einer wilden Zeit. Sie stand für einen melancholischen Tonfall, gepaart mit struppiger Rhythmik, für tiefsinnigen Intellekt und orthodoxe Glaubensgewissheit, für genaue, oft als Hommage an die Musikgeschichte inszenierte Strukturen und fein empfundene melodische Linien. Ihre Werke, darunter auch die ausufernde, im Jahre 2000 von Helmuth Rilling zum Bach-Jahr bestellte Johannes-Passion, werden in der ganzen Welt gespielt.
Mit dem Wolgadeutschen Alfred Schnittke, dem Esten Arvo Pärt und dem Ukrainer Giya Kancheli gehörte Gubaidulia zu einer teils verfemten, lange auch verfolgten Gruppe von ehemals sowjetrussischen, oft aus nationalbewussten Teilrepubliken stammenden Komponisten, die unbeirrbar von den Dogmen der Moderne ihren ganz eigenen, authentischen Stil geformt haben und damit erstaunlich beifällige Anerkennung fanden. Und die trotzdem ins Exil mussten, das nicht selten Deutschland hieß.
Für ihr umfassendes Werk (nur die Oper fehlt) mögen sinnfällig die beiden Violinkonzerte stehen. Gubaidulinas erstes, 1981 vom Widmungsträger Gidon Kremer uraufgeführtes Geigensolostück, das sich in seinem Titel „Offertorium“ ganz eindeutig auf Bach bezieht, gehört in seiner unvergleichlichen Mischung aus nachhaltiger Klanglichkeit und Denksport zu den populärsten Stücken der Moderne. Es wurde mehrfach eingespielt, befindet sich im Repertoire vieler junger Virtuosen.
Bei Anne-Sophie Mutter, die unbedingt ein Gubaidulina-Stück, wollte, zierte sie sich erst, fand schließlich besonders am gemeinsamen Vornamen von Schöpferin und Interpretin Gefallen. Die beiden Frauen kannten sich nicht, doch „die ganze Zeit begleitete mich am Anfang Sophias Gestalt – Gottes Weisheit“, erinnerte sich die Komponistin: „Als Ursprung des schöpferischen Prinzips, also auch der Kunst.“ Also entstand ein Werk, das ganz anhand eines individuellen religionsphilosophischen Weltbildes konzipiert wurde – wie meist bei Gubaidulina.
„In Tempus Präsens“ – „für die gegenwärtige Zeit“ heißt das einsätzige, in fünf Abschnitte sowie eine ausholende Kadenz geteilte Werk, das im Sommer 2007 uraufgeführt wurde. Gubaidulinas 2. Geigenkonzert ist intimer, lichter, melodienreicher als das erste. Ist es „weiblicher“? Die Komponistin verneinte. Es ist – wie so oft bei ihr – über ein genau definiertes Theoriegerüst gezogen, nur intuitive Musik mochte sie nicht. Sie liebte Baupläne, doch es hört sich trotzdem wunderbar spontan an. Was auch an Anne-Sophie Mutters schlackenlos reinem, gern auch stahlglänzenden, aber immer weich schimmerndem Geigenton lag. Die Orchesterbesetzung verzichtet ganz auf Geigen, nur die Solovioline schwebt in höchsten Lagen sphärisch über dem Orchester, in dem auch Wagnertuben raunen. Die tiefen Streicher agieren oft vielfach geteilt, Gubaidulina suchte hier „höllische Klänge“, die üppig bestücke Schlagwerkgruppe lässt sich vehement vernehmen.
Wie so oft hatte Gubaidulina Anspielungen auf Johann Sebastian Bach einfließen lassen. Seine Zahlenspiele, die dann doch die wunderbarste, natürlich fließende Musik ergeben, faszinierten sie. Das Orchester wird aggressiver zum Ende hin, marschiert brutal und ungeschlacht los, die Geige kämpft und schlägt aus, muss sich gegen unerbittlich ostinate Tuttischläge behaupten – und schwebt doch sanft wie die Seele am Ende auf einem hohen Fis davon. Seine kontrollierte Expression, sein hoher Anspruch, seine individuelle Note aus großer Schönheit und Ausbrüchen von Kraft und Vitalität machen es bis heute zum klanglich schillernden Ausdruck unserer Zeit: farbensatt und wie ein kostbares Kaleidoskop aus verführerisch blitzenden Splittern, kantig grell, dann wieder feinfühlig schmeichelnd.
Einen letzten großen Auftritt hatte die Musik Sofia Gubadulinas im November 2020, im zweiten Corona-Lockdown. Für die „Wien modern“-Festivalkameras fuhr da im leeren goldenen Saal des Wiener Musikvereins ein heiliges, auch reinigendes Klangdonnerwetter hernieder. Komponiert von einer 89-jährigen Legende: Denn drei Jahre schon wartete die Welt auf ihre mehrmals angekündigte Komponisten-Hommage „An den großen Beethoven“. Souverän ausgebreitet von Oksana Lyniv am Pult des Radio-Sinfonieorchesters Wien des ORF brach zumindest das zweite Teilstück der Tonsetzer-Ehrung im fünften Anlauf als befreiende Uraufführung los. „Der Zorn Gottes“ machte seinem Namen mit reinigendem Jericho-Bläserdonner von allein vier Wagnertuben und zwei Basstuben, vehementen Streicherfuriosi und gleißenden Dies-Irae-Kaskaden alle Ehre.
Wie ein fliegender Einsiedler
Diese domestizierte Aggression, gestisch, kontrapunktisch, vielschichtig, raffiniert, leuchtend, zivilisatorisch enthemmt, sie tat so gut! Marschtrommel und großer Gong ließen als tönende Apotheose den thronenden Christus des Jüngsten Tags erscheinen. „Gott ist zornig. Er ist zornig, böse auf uns Menschen, auf unser Verhalten. Wir haben Schuld auf uns geladen“, raunt dazu die Gubaidulina über ihr „einfaches Gebet“, das auch Bezüge zur Neunten nicht scheut.
Die alte Dame hatte ihren Pandemie-Beitrag geleistet. Sie sei wie ein „fliegender Einsiedler“, sagte der sie viel aufführende Simon Rattle, denn sie befinde sich immer „auf einer Umlaufbahn und besucht nur gelegentlich terra firma. Ab und zu kommt sie zu uns auf die Erde und bringt uns Licht und geht dann wieder auf ihre Umlaufbahn.“ Jetzt für immer. Sofia Gubaidulina ist am 13. März bei Hamburg gestorben. Sie wurde 93 Jahre alt.
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