Endlich – dafür allein muss man sich „Köln 75“ aussetzen, Ido Fluks wahrscheinlich wunderlichstem Biopic, das je über ein Konzert gedreht wurde – sieht man mal, wie das wohl war. Als der vielleicht bemitleidenswerteste Flügel der Musikgeschichte am 24. Januar 1975 kurz vor Mitternacht auf der gigantischen Bühne der Kölner Oper stand. 1400 Plätzen gegenüber.
Wie ein Kätzchen kurz vor dem Fauchen. Auf dünnen Beinchen, verloren, in der Erwartung eines Mannes, der ihn hassen würde, wie er alle Flügel hasste, weil sie nie das Klang werden ließen, was er wirklich im Kopf hatte: Keith Jarrett. Und der deswegen mitsingen musste beim Spielen und auf Pedale trampeln und auf die Tasten hämmern.
Bemitleidenswert war der Flügel, weil er sich hinterher beleidigen lassen musste. Als der vielleicht legendärste Klavierabend vorbei war, der als „Köln Concert“ (zwei Schallplatten, erschienen im November 1975) seitdem Millionen von Bildungsbürgerbuden mit verschnörkelten, gezackten, gehämmerten und immer wieder unfassbar schönen Klanglinien tapeziert hat.
Als Klavierkatastrophe, als unbespielbares Wrack, das er vielleicht gar nicht war, als sich Pianist und Piano zum ersten Mal begegneten. Der Improvisations- und Selbstentäußerungsvirtuose aus Allentown, Pennsylvania und der Bösendorfer Halbkonzertflügel (225 Zentimeter lang, rund 150.000 Euro teuer). Und als Jarrett sich zu spielen weigern wollte. Weil ihm von der 18-jährigen Konzertveranstalterin, die ihn auf seiner Europa-Tournee von Lausanne zu einem Umweg in die Domstadt überredet und sich dafür gewaltig verschuldet hatte, ein Bösendorfer Imperial (350 Zentimeter lang, fast eine Viertelmillion teuer) versprochen worden war.
Und weil unser bemitleidenswertes Instrument (gebaut 1969) außerdem in einem derart bedenklichen Zustand war, dass zwei Klavierstimmer, deren Spur sich seit dem 24. Januar 1975 im rheinischen Nebel verliert, während – das kolportiert wenigstens Ido Fluk – einer Aufführung von Alban Bergs „Lulu“ Stunden an ihm herumschraubten, um ihn halbwegs spielbar zu machen.
Ganz große Legende
Die Geschichte vom „Köln Concert“ und vom bemitleidenswerten Flügel ist eine der ganz großen Legenden des Jazz. Die will Ido Fluk aber zum Glück gar nicht erzählen. Das gibt er gleich zu. Und führt Michelangelo an. Und die Sixtina.
Deren Decke hätte der Meister auch nie mit seiner Lüftelmalerei verzieren können, hätte es da nicht einen Gerüstbauer gegeben. „Köln 75“ ist ein Lobgesang auf die Gerüstbauer der Kulturgeschichte. Der Gerüstbauer des „Köln Concerts“, eben jene 18-jährige Schülerin, heißt Vera Brandes.
„Köln 75“ ist ihre Geschichte (wie sie sie erzählt, warnt der Vorspann) und die Geschichte von Keith Jarrett. Wie in einer Sternfahrt laufen beide aufeinander zu und auf unsern bemitleidenswerten Flügel.
Nun müssen wir kurz einen Exkurs einfügen, ein Solo gewissermaßen, um im Jazz-Bild zu bleiben. Einen Exkurs in Sachen Biopic. Das ist ja ein geradezu epidemisches Genre. Und verdankt sich vielleicht der Einfallslosigkeit von Drehbuchautoren, die – besser gut abgeschrieben, als schlecht erfunden – sich Figuren, Momente der Geschichte vornehmen und erzählen, warum sie so wichtig wurden, obwohl sie es vielleicht gar nicht waren.
Sie nehmen das ziemlich ernst. Ido Fluk tut genau das nicht. Besser: Er tut das auf eine geradezu herzerfrischende Weise genauso ernst und leicht, wie die junge Vera Brandes ihr Leben und ihre Berufung nimmt, die ihr Leben werden sollte. Und wie Mala Emde, die sich auf eine Art in Vera und durch die Geschichte stürzt, dass man ihr diverse Filmpreise hinterherwerfen möchte.
Zurück zum Januar vor fünfzig Jahren. Vera Brandes ist Tochter eines misogynen Zahnarztes, den Ulrich Tukur mit all seiner nur ihm eigenen protofaschistischen Eleganz spielt. Vera will raus. Der Jazz – der in Amerika eigentlich schon tot ist, in Europa aber gerade nicht – wird ihr Ticket in die Freiheit. In Keith Jarrett hat sie sich, die mit 16 ihre ersten Jazztourneen vermakelt, in Berlin schockverliebt.
Eine Legende wird Legende
Jarrett ist mit knapp Dreißig längst eine Legende, hat mit Art Blakey, mit Miles Davis gespielt, sich inzwischen aber darauf verlegt, sich mit nichts als einem Flügel und seinem knallvollen, klassisch grundierten Klavierarchiv im Kopf jeden Abend ohne Netz und doppelten Boden ins Unterholz der Musikgeschichte und seiner Seele zu begeben.
Jarrett hat Rücken, führt finanziell eine prekäre Existenz, lässt sich von Manfred Eicher, dem nicht minder legendären Gründer des ECM-Labels, in dessen Renault 4 (Kleinwagen mit für jeden Rückengeplagten tödlichem Gestühl) durch Europa fahren, um das Geld für die Flüge zu sparen.
In Köln und am bemitleidenswerten Flügel treffen sich die beiden Geschichten. Wenn Jarrett nicht spielt, sagt Mala Emde als Vera Brandes, ist sie am Arsch. Und er wird es auch sein. Keith spielt, aber nur für Vera, sagt er. Die Gerüstbauerin muss nicht Zahnärztin werden. Beides war für die Welt wahrscheinlich ähnlich positiv.
„Köln 75“ erzählt nebenbei die Geschichte des Jazz (dafür hat Ido Fluk einen erfundenen Jazzjournalisten in den Fond von Eichers Renault gesetzt). Und die Geschichte der Siebziger (aber nur ein bisschen). Und die Geschichte einer weiblichen Selbstermächtigung, eines Erwachsenwerdens in einer klammkonservativen Zeit.
Den Flügel hört man übrigens gar nicht in „Köln 75“. Nicht das G-D-C-G-A, mit dem alles beginnt. Nichts vom ganzen Rest der 66 Minuten und fünf Sekunden, in denen Keith Jarrett mehr Melodien aus dem Nichts erfindet als Max Reger in 43 Jahren (okay, das war auch nicht schwer).
Manfred Eicher wollte das nicht. Keith Jarrett wollte das nicht. Er hasst das „Köln Concert“. Er wollte mal alles einstampfen lassen, so wie der Großavantardist Pierre Boulez mal Opernhäuser sprengen wollte.
Der Theorien über den Köln-Hass des Keith Jarrett gibt es viele. Vielleicht fügen wir ihm noch eine hinzu, die uns im Abspann eingefallen ist.
Vielleicht ist dem Keith das, was man da hört, wenn man daheim vor seiner High-End-Hifi-Anlage sitzt (oder seinem 75-Euro-Bluetooth-Lautsprecher) hockt, deswegen so unheimlich, weil es ihm am Abend des 24. Januar 1975 im Infight mit dem bemitleidenswertesten aller Flügel gelungen ist, wofür er das alles eigentlich unternahm – die perfekte musikalische Ausstülpung seiner Seele. Und siehe da: Sie war schön. Vielleicht war ihm das einfach zu unheimlich.
Egal. Auf jeden Fall muss man sich „Köln 75“ anschauen. Unser bemitleidenswerter Flügel tut übrigens angeblich immer noch seinen Dienst in Köln. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Die von Vincent Duceau. Der hat einen Dokumentarfilm gedreht, der demnächst anläuft, über das Köln Concert und über unsern Flügel, den Bösendorfer mit der Fabrikationsnummer 28.952.
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