Inhalt des Artikels:
- Goldener Westen? – Das Ende eines Mythos
- Digitale Rückständigkeit und Bürokratie
- Wo lebt es sich besser? – Deutschland vs. Polen
- Gründe für Stagnation in Deutschland
Goldener Westen? – Das Ende eines Mythos
Es gab Zeiten, da galt Deutschland vielen Polen als Inbegriff des "goldenen Westens". Die Welt jenseits der Oder-Neiße-Grenze sah aus wie einem Hochglanzkatalog entnommen: Die breiten geraden Autobahnen hoben sich wohltuend von den gefährlichen polnischen Landstraßen ab (ein Autobahnnetz gab es noch nicht!), die Einfamilienhäuser mit ihren gepflegten Vorgärten zeugten von einem gewissen Wohlstand (da störten selbst die allgegenwärtigen Gartenzwerge nicht!). Alles schien glanzvoller, moderner, besser…
Doch diese Zeiten sind vorbei. So wie die Deutschen einst von der "polnischen Wirtschaft" sprachen, sprechen heute immer mehr Polen von Deutschland als einem gefallenen Land, kaputtgespart und heruntergewirtschaftet. Das Einzige, was in Deutschland noch zuverlässig funktioniere, sei das Finanzamt. Ein Podcast über Deutschland hat dieses Bild sogar ironisch im Titel aufgegriffen: "Ruinenlandschaft Deutschland?"

Das Bild, das die polnische Presse seit einiger Zeit von Deutschland zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft, der Mythos vom "goldenen Westen" wird regelrecht demontiert: Deindustrialisierung, unkontrollierte Migration, sinkende Realeinkommen, bröckelnde Brücken, Straßen und Autobahnen, unpünktliche Eisenbahnen, unfreundliche Bedienungen in den Lokalen, und in der Politik populistische Parteien auf dem Vormarsch…
Als Gegensatz dazu werden blühende Landschaften in Polen gemalt. In Teilen stimmt das auch: Die polnische Wirtschaft ist stark und wird 2025 Prognosen zufolge um 3,7 Prozent zulegen; das polnische Autobahn- und Schnellstraßennetz wächst von Jahr zu Jahr und umfasst bereits mehr als 5.100 Kilometer; seit kurzem bringt der Staat auch die lange vernachlässigte Eisenbahninfrastruktur wieder auf Vordermann; die Gastroszene, so liest man in den sozialen Medien, sei pfiffig und warte mit leckerem Essen und freundlichen Servicekräften, die sich wohltuend von den mürrischen deutschen Bedienungen abhöben.

Für Aufsehen sorgte im vergangenen Herbst der Schriftsteller Jacek Dehnel, der nach fünf Jahren "Exil" in Berlin wieder nach Polen zog und mit Deutschland und seiner Hauptstadt hart ins Gericht ging. "Wenn man von Berlin gen Osten fährt, fährt man eigentlich in den Westen. (…) Mit großer Erleichterung denke ich daran, dieses gefallene Land zu verlassen", schrieb er in sozialen Medien. Dabei war Dehnel, der zu den bekanntesten Gegenwartsautoren Polens zählt, mit seinem Ehemann freiwillig nach Deutschland gezogen, um der homophoben Stimmung unter der PiS-Regierung zu entkommen. Nach dem Regierungswechsel kehrte er ernüchtert zurück. Die Begründung: In Deutschland herrsche systemisches Versagen. Ein Interview, das er der polnischen Wochenzeitschrift "Newsweek" gab, wurde zu einem der meistgelesenen Artikeln des Jahres 2024!
Digitale Rückständigkeit und Bürokratie
Wie vielen anderen Polen fiel Dehnel die hinkende Digitalisierung besonders auf. "Uns nervte die technologische Rückständigkeit, das miserable Internet, die Unmöglichkeit, an vielen Orten mit Karte zu bezahlen", berichtete er. In der Tat scheint Polen hier deutlich weiter zu sein. Die Smartphone-App mObywatel ("mBürger") funktioniert beispielsweise schon seit 2017. Darin sind Personalausweise, Führerscheine, Versicherungsunterlagen und viele andere Dokumente elektronisch hinterlegt, was digitale Behördengänge möglich oder das Eröffnen eines Bankkontos zu einer Zehn-Minuten-Angelegenheit macht. Deutschland scheint von einer ähnlichen Lösung noch Jahre entfernt.

Auch E-Rezepte sind in Polen bereits seit 2020 Pflicht, hierzulande dagegen erst seit 2024. Statt gelber Impfpässe gab es in Polen während der Corona-Pandemie QR-Codes, die der Patient sofort nach der Impfung in die Hand gedrückt bekam. Kartenzahlungen sind in Polen seit Jahren deutlich beliebter als Bargeld, das in Deutschland noch weit oben in der Gunst der Bürger steht. Das Faxgerät, mit dem deutsche Behörden noch immer kommunizieren, ist in der polnischen Öffentlichkeit zum Sinnbild der digitalen Rückständigkeit Deutschlands geworden.
Ein weiteres Problem ist laut Dehnel die überbordende Bürokratie. "Wir befinden uns praktisch immer in irgendeinem bürokratischen Streit mit den Behörden", sagte der Schriftsteller der Wochenzeitschrift "Newsweek". Meist liege es daran, dass die Verwaltung etwas nicht anerkennt, "weil sie es nicht sorgfältig gelesen hat oder weil sie einen Brief verloren oder nicht abgeschickt hat". Der Verlust eines Briefes sei in Deutschland eine ernste Angelegenheit, denn im Gegensatz zum Fax würden in Berlin E-Mails mit Anhängen nicht immer akzeptiert. "Und so wird alles zu Fuß, per Post und nach Telefonbeschwerden unseres Steuerberaters erledigt."

Wo lebt es sich besser? – Deutschland vs. Polen
Liest man derartige Wortmeldungen, könnte man fast schon den Eindruck gewinnen, als säße die deutsche Mittelschicht auf gepackten Koffern, um nach Polen zu kommen. Doch das ist natürlich übertrieben. Nach wie vor sind die Einkommen in Deutschland höher und das Gesundheitssystem (einen Hauch) besser. Fakt ist aber: Deutschland hat sich aus polnischer Sicht von der Lokomotive Europas in den kranken Mann verwandelt. Für dieses Bild sorgen nicht nur objektive Fakten und ökonomische Kennzahlen, sondern die subjektiv wahrgenommene Stimmung.
In Polen geht es seit Jahren aufwärts, die Einkommen und der Wohlstand steigen, die Städte werden schöner, die Infrastruktur besser. Deutschland entwickelt sich unterdessen zurück oder tritt auf der Stelle, glauben viele diesseits und jenseits der Grenze. Dehnel berichtet, welche Eindrücke andere Migranten haben, die deutlich länger als er in Deutschland lebten: "Sie sagen: Noch vor wenigen Jahren waren die öffentlichen Dienstleistungen besser, das Leben war billiger und vor allem waren die Menschen höflicher, freundlicher und lächelten mehr."

Das bestätigt auch Andrzej Byrt, polnischer Botschafter in Deutschland in den Jahren 1995-2001 und 2002-2006, im Interview mit "Forbes Polska": "Die Polen sehen, dass das heutige Polen viel besser ist als das von 1989. In unserem Land hat sich die Situation deutlich verbessert. Die Deutschen hingegen haben das Gefühl, dass sich die Situation in ihrem Land verschlechtert hat." Deutsche, die zum ersten Mal seit Jahren Warschau, Posen oder Krakau besuchten, seien schockiert: "Ich höre, dass wir ordentliche Straßen und saubere Städte haben, dass Polen einen wirklich guten Eindruck macht, dass es schöner geworden ist. Dass es einfach zu Deutschland aufschließen konnte."
Gründe für Stagnation in Deutschland
Doch warum hinkt Deutschland auf einigen Gebieten hinterher? Die Probleme seien systemischer Natur, meint Dehnel: "Sie fußen auf dem Glauben, so meine Empfindung, dass Deutschland in der Zeit von Helmut Kohl die Krone der Schöpfung erreicht habe. Seitdem müsse nichts mehr geändert, sondern alles so erhalten werden."

Polnischen Wirtschaftsexperten zufolge hat sich jeglicher Wandel in Deutschland schon immer langsam vollzogen. Die Deutschen würden alles mit ruhiger Hand und wohlüberlegt angehen – doch die heutige Welt erfordere schnelle Anpassungen. Das Ergebnis: Die deutsche Wirtschaft sei in der heutigen, veränderten Weltlage nicht innovativ genug.
"Auf den ersten Blick merkt man nicht, dass Deutschland in einer so tiefen Krise steckt, aber das liegt daran, dass es so wahnsinnig reich ist", sagte der Wirtschaftsberater Tomasz F. Krawczyk der Internetplattform "Krytyka Polityczna". Aufgrund enormer angehäufter Ressourcen werde Deutschland erst in einigen Jahren eine große Krise erleben, meint er. "Ich glaube aber, dass heute der letzte Moment ist, in dem Deutschland die Chance hat, sich ernsthaft zu reformieren."
Sicherlich sind nicht all solche Beobachtungen durch Fakten gedeckt, ein Teil ist eher Sache des psychologischen Framings. Fakt ist aber auch: Ein anderer Teil ist sehr wohl wahr. Polen, die Deutschland als kranken Mann Europas empfinden, halten ihren Nachbarn im Westen einen Spiegel vor und weisen auf Probleme hin, die man hierzulande tatsächlich angehen muss.

MDR (baz)
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