Der zur Ewigkeit geronnene, gültige Augenblick. Festhalten, was eigentlich nicht zu fassen ist. Das ist es, was Herbert von Karajan Zeit seines langen Dirigentenlebens erreichen wollte. So war er zum von Theodor Adorno geschmähten Tondompteur des Wirtschaftswunders aufgestiegen, wie zum prototypischen Klangmagier für die damals noch aufnahmehungrigen Klassikmassen geworden.

Der Gott in der Stereomusiktruhe, später der Pionier der CD und der Visionär der nie populär gewordenen Laserdisc. Der Zauberlehrling des Zeitalters der technischen Reproduzierbarkeit. Der, der nach seinem Tod durch seine akribisch vorbereiteten Studiotondokumente weiterexistieren wollte.

So ist der vor bald 36 Jahren gestorbene vierte Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, der hier von 1954 bis 1989 autokratisch regierte, ganz besonders eben auch durch sein akustisches Erbe zu einer mal verblassenden, dann wieder aufpolierten, aber bis heute nicht vergessenen Legende und zu einer immer noch gut verkaufenden Mediengröße geworden.

Kein klassischer Musiker des 20. Jahrhunderts hat mehr Platten aufgenommen und unter die Leute gebracht als der geborene Salzburger, der die Berliner nach dem komplexen, aber auch komplizierten Wilhelm Furtwängler zum Eliteklangkörper geformt hat.

Immer schon hat sich selbst der junge Dirigent für Aufnahmen interessiert. Seine Hinterlassenschaft ist glänzend katalogisiert bei Warner (die frühen EMI-Aufnahmen unter Walter Legge), Universal (DG und Decca) sowie Sony verfügbar. Das ist der quasi in Bernstein gegossene Karajan, glänzend, kostbar, technisch aufpoliert: von den früheren, noch etwas raueren, stürmischeren Aufnahmen in Wien und London bis zu den erstarrt späten, das eigene Denkmal meißelnden Soundtracks für Konzertfilme, die schließlich im Studio mit einem Playback spielenden Orchester den Maestro in schönste Seitenlicht rückten, schließlich entrückten.

Irgendwann, die eigens für ihn gegründeten Opernfestspiele Salzburg begünstigten dies, wurden Werke erst im Studio aufgenommen, dann live musiziert. Davor war es umgekehrt, nach den Live-Konzerten sollte die nun bestens eingeübte Interpretation vor den Mikrofonen verewigt werden: nicht als spontaner Moment, sondern als souveräne Geste der Profis; inklusive aller akustischer Manipulationen, Re-Takes, Schnittkunststücke – Aufnahmen als eigenständige Kunstwerke betrachtet. So wie es keiner radikaler durchgeführt hat Glenn Gould, der sich ab einem bestimmten Karrieremoment der Öffentlichkeit entzog, nur noch durch seine höchst artifiziellen Studioprodukte mit seinem Publikum kommunizierte.

Glenn Gould mit dem 3. Beethoven-Klavierkonzert ist jetzt mit einer nie kommerzialisierten Einspielung von 1957 auch in einer sehr besonderen, 24 CDs umfassenden Box des Eigenlabels der Berliner Philharmoniker zu genießen. Es ist, nach vielen aktuellen, mal nach Persönlichkeiten, mal nach Komponisten gegliederten Veröffentlichungen, erst die zweite mit wirklich historischem Material – nach den in Moskau wiedergefundenen, technisch aufbereiteten Bändern der Berliner Kriegsjahrekonzerte Wilhelm Furtwänglers. Und sie stellt, nach einem aufwändigen Digitalisierungsprozess, jetzt eine (erste) Auswahl der Livemittschnitte der Berliner Karajan-Konzerte aus den Jahren 1953 bis 1969 vor, wie sie von vom SFB und dem RIAS dokumentiert wurden. Denn diese Mitschnitte waren für Karajan Dienst am Subventionsgeber, Abfallprodukte ohne ewigen Wert, für das schnelle Vergessen der Radioarchive.

Für die Nachwelt sind sie aber nun zwar keine Sensation, aber doch ein nachklingender Schatz: Sie konservieren einerseits historische Momente – wie das erst zweite Aufeinandertreffen von Karajan und Orchester (nach einem vor dem Krieg) überhaupt im September 1953 (mit der erhaltenen 3. Sinfonie, der Eroica Beethovens) oder dem Eröffnungsabend der architektonisch bis heute wegweisenden Berliner Philharmonie am 16. Oktober 1963: natürlich wieder mit Beethoven – der Neunten (mit der jungen, für Karajan so bedeutenden Sopranistin Gundula Janowitz).

Und nicht nur enden diese insgesamt 23 in Teilen oder als Ganzes veröffentlichten Konzerte ebenfalls mit einer Eroica. Die zeigt, wie weit Orchester und Überdirigent in diesen 16 Jahren zusammengewachsen, ja verschmolzen sind, wie sich der noch spürbare Ausdruckswillen des Erratikers Furtwängler zu Karajan-Eleganz amalgamiert und verwandelt hat.

Aber, und damit muss man den Vergleich mit den oft gleichzeitig entstandenen Studioeinspielungen aufmachen, die Live-Konzerte sind nicht grundsätzlich anders in einer oft früh gefundenen, nur stetig ausgefeilteren, scheinbar definitiven Interpretation. Doch sie sind spontaner, direkter, abrupter. Sie sind auch aus dem Moment heraus und in der Konzertvariation mutiger als die geputzten, scheinbar perfekt makellosen Mikrosessions ohne Publikum.

Man kann also hörend durch die Programmierung vergangener Zeiten gleiten, die erstaunlich heutig Barockes von Bach und Händel (in natürlich anfechtbarer Stilistik) auf frische Zeitgenossenschaft von Richard Rodney Bennett (Aubade für Orchester) als Katalogpremiere treffen lässt. Letztes wurde von Karajan danach nie wieder dirigiert, genau wie Capriccio für Sopran, Violine und Orchester Rolf Liebermanns für die Karajan-Lieblinge Irmgard Seefried und Wolfgang Schneiderhan. Toll sind die Unterschiede zwischen Schönbergs Variationen für Orchester von 1969 im Gegensatz zur berühmten Einspielung von 1973.

Natürlich herrscht repräsentative Sinfonik mit Brahms, Schumann, Dvorák, Strauss, Tschaikowsky vor, es gibt aber eben auch Ligetis Atmosphères (wohl als Antwort auf die Premiere von Kubricks „Clockwork Orange“, die sich dessen ebenfalls bedient, überraschend Stimmiges von Mozart wie die „Londronische Nachtmusik“ oder immer feine Karajan-Favoriten wie die 5. Sinfonien von Prokofiew und Sibelius. Man kann selbst Elisabeth Schwarzkopf mit den kostbar ausgedeuteten Vier letzten Liedern – Berliner Fassung vom Mai 1964 – erstmals erleben; bekannt war nur der Salzburger Mitschnitt vom folgenden Sommer.

Das Karajan-Bild revolutioniert sich hier nicht, es wird aber profilierter, nachdrücklicher. Man erlebt ihn und das Orchester bei der Arbeit, nicht im Endergebnis. Das alles ist, wie stets beim Berliner Eigenlabel für den High End Genießer, geschmackvoll verpackt, optisch ausgestattet von Thomas Scheibitz und in einem feinen Begleitband kenntnisreich kommentiert. So legt das Orchester dem alten Chef noch einmal viel Ehre ein. Sich sowieso. Und Fortsetzung (die Opernmitschnitte!) folgt hoffentlich.

Herbert von Karajan: Live in Berlin 1953-1969 (Berliner Philharmoniker Recordings)

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