„Ein Verrückter“, rief eine Frau am Abend des 22. November 1928 in die Pariser Oper. „Ein Verrückter.“ Der Beifall war schütter gewesen. Der Komponist des Balletts, das da gerade uraufgeführt worden war, gab ihr recht. „Die Frau“, soll Maurice Ravel gesagt haben, „hat es verstanden.“
Ida Rubinstein, eine nicht mehr ganz junge, aber in der überschäumenden Pariser Gesellschaft der Endzwanziger weltberühmte russische Tänzerin, hatte sich auf der Bühne in einer Art lasziver Carmen-Fantasie auf dem Tisch einer spanischen Kellertaverne von zwanzig jungen Männern umschwärmen lassen wie ein fahles Licht von den Motten. Und dazu waren die berühmtesten 17 Minuten der Musikgeschichte zum ersten Mal gespielt worden, die eine ganz andere Geschichte erzählten.
Ein gnadenloses Stück. Taucht aus dem Nichts auf und marschiert anschließend konsequent, ohne Umwege direkt in eine gigantische Katastrophe. 169 Wiederholungen einer einzigen rhythmischen Bewegung, die allen ansonsten sinfonisch eher unterbeschäftigten Bedienern kleiner Trommeln den Angstschweiß auf die Stirn treiben, 18 Variationen ein und derselben Melodie, die man selbst dann Tage später noch nicht aus dem Ohr kriegt, wenn man sie seit Jahrzehnten kennt – der „Bolero“.
Ravel, der heute vor 150 Jahren im baskischen Ciboure zur Welt kam und dem der sich rasch einstellende und bis heute anhaltende Welterfolg des Siebzehnminüters ungefähr so peinlich war wie Keith Jarrett der seines Köln Concerts, sagte seinem Komponisten-Kollegen Arthur Honegger: Das sei schon sein Meisterwerk, nur enthalte es halt keinerlei Musik. Die Geschichte dieses musiklosen Musikstücks zu erzählen und mit ihr das Leben des rätselhaften Schein-Impressionisten hat sich nun die Regisseurin Anne Fontaine vorgenommen. Das ist an sich eine schöne Idee.
Statt sich nun allerdings – um im „Bolero“-Bild zu bleiben – auf die Seite von Ravel, diesem Feinmechaniker unser aller Träume, dieser seltsamen Seele zu schlagen, schlug sie sich auf die von Ida Rubinstein. „Bolero“ ist von der grandiosen Konsequenz, der geradezu manischen mechanistischen Vehemenz Ravels ziemlich weit weg. Mäandert herum entlang eines relativ dünnen chronologischen Fadens. In schönen Bildern, schönen Räumen, schönen Träumen.
Ravel – ein fremdes Wesen
„Bolero“ ist eine Ravel-Fantasie, die ungefähr so weichgezeichnet aussieht wie (leider) der pianistische Klangmagier Alexandre Tharaud für Fontaines Soundtrack die Ravelschen Kurzgeschichten und Märchen eingespielt hat (Tharaud ist im Film auch Pierre Lalo, Sohn des großen Komponisten Edouard Lalo und Ravels schärfster Musikkritiker).
Woran Maurice Ravel vielleicht nicht ganz unschuldig ist, den mit Johann Sebastian Bach zumindest verbindet, dass man sich aus dem, was von ihm an autobiografischem Material überliefert ist, kaum einen wahren Reim auf sein Wesen machen kann. Und aus seiner Musik eher noch weniger. Ein kleiner Mann mit einem großen Kopf, der bis ins fast hohe Alter bei seiner Mutter wohnt. Ein Maniker, der schon mal zur Verfolgung einer von irgendwo hergewehten orientalischen Melodie aus dem Fenster fällt.
Ein Mann, der sein Herz kaum nutzt, für die Musik nicht und nicht für die Frauen. Ein Dandy, der nicht ohne Spazierstock auf die Straße geht, nicht ohne Lackschuhe dirigiert, 20 Schlafanzüge in allen Varianten von Grün einpackt und ein halbes Hundert Rüschenhemden, als er aufbricht in die Vereinigten Staaten. Ein großes Kind, das seine famose Villa vor der Stadt, in die er dann irgendwann doch zieht, mit Nippes füllt, mit Aufziehvögeln, Spieluhren. Ein perfekter Prokrastinierer, der Monate braucht für einen Brief, Tage für einen Takt.
Das zumindest erzählt Anne Fontaine nahezu perfekt. Wie die Inspiration entsteht in Maurice Ravel und der Rhythmus. 1927 hat Ida Rubinstein Ravel mit einem spanischen Ballett beauftragt. Eigentlich wollte er – ganz eigentlich wollte er gar nichts tun – Isaac Albeniz‘ „Iberia“ orchestrieren. Das ging schief. Und dann hatte er nur noch ein paar Wochen für die 17 Minuten, auf die sich Ravel und Rubinstein in einer absurden Feilscherei als Spieldauer geeinigt hatten.
Und dann sitzt er da. Am Meer, in seiner Villa, im Bett, am Schreibtisch, am Flügel. Ständig tickt was, Kirchenglocken läuten, der Wecker hält den großen Schlaflosen wach. Allmählich formt sich was, bewegt sich was. Bis es dann irgendwann so weit ist, und er am Klavier sitzt vor seiner legendären Haushälterin Madame Revelot (in Wahrheit war es ein bisschen anders) und mit der Linken auf den Flügel den Rhythmus der kleinen Trommel schlägt, während die Rechte auf den Tasten allmählich die Melodie bildet.
Fontaine webt in ihr Bolero-Biopic einige dieser Fäden, die am Ende eine Art Wandteppich ergeben sollen, es aber nicht wirklich tun. Den vom allmählichen Weltverlust des Weltfernen zum Beispiel.
Und dann liegt er da. Wir schreiben das Jahr 1937. Ravel hat mit Ende Fünfzig das Komponieren aufgegeben, weil er die Musik nicht mehr aus seinem Kopf bekam. Er litt an einer zerebralen Erkrankung, von der man bis heute keine rechte Diagnose hat. Einer Dissoziation, deren Spuren Anne Fontaine wiederum halbwegs subtil erzählt. Ravels Schädel ist bandagiert. Die Frauen seines Lebens flirren vorbei. Was für jeden, der sich ein bisschen mit ihm beschäftigt hat, ungefähr so unwahrscheinlich ist, wie, dass ihm im Moment seines Sterbens ausgerechnet der Bolero durchs verkarstete, frisch operierte Hirn geht.
Leute, hört Seong-Jin Cho
Man wird ganz melancholisch. Weil eine andere Geschichte möglich gewesen wäre. Und es einem um Raphael Personnaz leidtut. Der dirigiert sehr viel besser als es Cate Blanchett in „Tàr“ tat und Bradley Cooper als Leonard Bernstein. Man sah ihm gern beim Denken, beim Wahrnehmen seiner Welt, beim Einsamsein zu. Er war ein fabelhafter und wunderlicher Ravel. Auch wenn er – wahrscheinlich aus Angst ihn bloßzustellen, ihn fremder erscheinen zu lassen, als er für den modernen Zuschauer sein darf – längst nicht so fabelhaft und wunderlich sein durfte, wie Ravel es tatsächlich war.
Im Übrigen sei angemerkt, dass man Sergiu Celibidaches Bolero von 1971 hören sollte (nicht nur, weil er ziemlich exakt 17 Minuten dauert), wenn man den Bolero hören möchte. Und Seong-Jin Chos gerade erschienene Gesamteinspielung des Ravelschen Klavierwerks. Da ist alles drin, die Einsamkeit, der Rausch, die Fremdheit, die Uhrmacherei, der ganze große Kindskopf. Da braucht man keine Biografie mehr. Und Anne Fontaines Film auch nicht.
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