Auf der Suche nach einer Ausweichspielstätte – die große Bühne wird auf den neuesten technischen Stand gebracht und ist während dieser Zeit nicht bespielbar – ist das Schauspiel Leipzig in den tiefen Süden der Messestadt vorgestoßen. Im Nieselregen geht man durch das Tor mit der großen Aufschrift Agra-Messepark, Plakate werben für einen Antik- und einen Trödelmarkt, Essens- und Getränkebuden verteilen sich zwischen den großen Hallen. Zu DDR-Zeiten präsentierte der Sozialismus hier seine Mastschweine und Getreidezüchtungen oder ließ Mähdrescher der Marke Fortschritt vorm Politbüro auffahren. Eine gute Gelegenheit, Heiner Müllers Skandalstück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ aus der Mottenkiste zu holen – eine echte Entdeckung. Auch die Uraufführung einer Antikenüberschreibung von Nino Haratischwili kann begeistern.

Ganze vier Premieren sind für den Auftakt der neuen Spielstätte – aus Agra wird „Ag(o)ra“, der antike Platz der Versammlung – angesetzt. Mit „Die Gläserne Kuh“ erkundet man in einer kleinen Gruppe das Gelände. Im Stück ist man im Jahr 1981, den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf (auch wenn Erich Honecker das erst 1989 bei der Präsentation des 32-Bit-Speicherchips sagte) und das Publikum soll als Prüfkommission darüber befinden, ob bei der Landwirtschaftsmesse alles in bester Ordnung ist (ist es natürlich nicht, so löst sich beispielsweise die titelgebende gläserne Kuh in Scherben auf). Wie der Kontrollchor in Bertolt Brechts „Die Maßnahme“ richtet man über die Genossen – vom Parteisekretär bis zum Schallplattenunterhalter –, die durch die leerstehenden Hallen und das heruntergekommene Clubhaus führen. Früher zog die Agra eine halbe Million Besucher an, heute wirkt es wie ein Lost Place.

Mit Müllers „Die Umsiedlerin“ geht es in den ehemaligen Kultursaal, Traktoren und landwirtschaftliche Maschinen stehen wie Relikte aus einer vergangenen Zeit in dem holzgetäfelten Raum mit dem roten Vorhang. So wirkt auch Müllers Text wie aus einer längst vergangenen Zeit in einem fernen Land, als es „Junkerland in Bauernhand!“ hieß. Was 1945 als Bodenreform begann, mündet 1960 in die Vollkollektivierung, das ist der Rahmen des Stücks, das 1961 nur eine Aufführung auf einer Studentenbühne brauchte, um verboten zu werden.

Der Regisseur, der Brecht-Schüler B.K. Tragelehn, gibt noch heute mit Vorliebe das dröhnende Lachen zum Besten, mit dem der damals in der ersten Reihe sitzende Manfred Krug reagiert haben soll. Der Spaß dauerte nur kurz: Tragelehn wurde in die Produktion verbannt, Müller aus dem Schriftstellerverband geschmissen. Erst 1975 konnte das Stück, unter dem neuen Titel „Die Bauern“, in der DDR wieder aufgeführt werden, da waren Tragelehn und Müller längst rehabilitiert.

Kann man heute noch über „Die Umsiedlerin“ lachen? Das Premierenpublikum lässt sich nicht groß bitten und amüsiert sich prächtig, nicht zuletzt über die wundervoll sächselnden Puppen, die Regisseur Moritz Sostmann den Schauspielern an die Seite stellt. Vom anarchistischen Säufer bis zum übereifrigen FDJler, von den alten Großbauern bis zur mittellosen „Umsiedlerin“, die aus den ehemaligen Ostgebieten geflohen ist, alle versuchen sich mit der neuen Zeit und den großen Umwälzungen, die sie mit sich bringt, zu arrangieren. Was gar nicht einfach ist: Erst werden alle Bauern offiziell zu kleinen Eigentümern, bevor sie ihr Land und Vieh der LPG geben sollen. Solcherlei Dialektik, dass im Sozialismus das Eigentum verallgemeinert werden soll, um es danach abzuschaffen, wächst selbst dem rührigen Parteisekretär gelegentlich über den Kopf, der des Nachts noch den Mond einen kleinbürgerlichen Mitläufer schimpft.

Warum sich „Die Umsiedlerin“ heute noch zu sehen lohnt, ist ihr feiner Materialismus. Obwohl die Bauern sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist (das lernte Müller nicht auf einer Schreibschule, sondern als Beamter auf dem Lande), kommen Verse dabei raus. Dieses Zusammentreffen des Rohen und Sublimen ist in der deutschen Dramatik einzigartig. Auch biegt Müller seine Figuren nicht zurecht, sondern lässt sie über Staat und Steuern, Kommunismus und Weltverbesserer wettern. Es sind Menschen mit Interessen und Begierden, keine Kopfgeburten einer großen Idee. Sie halten sich nicht an die offizielle Rede, sondern unterlaufen sie – wie in jeder großen Komödie – unaufhörlich. Weil Müller erst mit seinen späteren Stücken bekannt wurde, er nannte sie „proletarische Tragödien im Zeitalter der Konterrevolution“, ist er als Komödiendichter von Stücken wie „Die Umsiedlerin“ oder auch „Weiberkomödie“ vergessen. Zu Unrecht!

Tragödie gibt es an diesem Tag auch noch zu sehen – und was für eine! Nino Haratischwili hat für das Schauspiel Leipzig das Stück „Kein Schicksal, Klytämnestra“ geschrieben, die Uraufführung hat Intendant Enrico Lübbe als antiken Politthriller mit viel Gegenwartsbezug inszeniert. Der wie ein Bandenboss ganzkörpertätowierte Agamemnon (Wenzel Banneyer) bereitet einen Krieg vor, ein bisschen wegen der Ehre, aber mehr noch wegen der Staatsschulden. Außerdem kann er so die vor dem Aufstand stehende Opposition gegen die Bedrohung von außen wenden, mit der auch seine aufmüpfige Tochter Iphigenie (Paula Winteler) verbandelt ist. Seine Frau Klytämnestra – Bettina Schmidt brilliert in der Hauptrolle – übernimmt nun die Verwaltung des Staates, das Zivilleben blüht auf. Neue Sitten, die dem alten Herrscher gar nicht passen, als er mit seiner Beute Kassandra (Vanessa Czapla) vom Schlachtfeld zurückkommt.

Die Tochter will ein bisschen Baader-Meinhof spielen

Wie sich Haratischwili bei der „Orestie“ bedient und daraus ein modernes Drama über Krieg und Frieden, aber auch über das Verhältnis der Geschlechter und Generationen macht, ist unglaublich (und ein Gegenbeispiel zu dem schwachen „Penthesilea“-Versuch in Halle). Klytämnestras Ansinnen, den Staat moderat zu modernisieren und reformieren, wird durch ihren kriegslüsternen Ehemann ebenso bedroht wie durch ihre Tochter, die mit dem Rebellenführer (Samuel Sandriesser) ein bisschen Baader-Meinhof-Bande spielen will – zum Soundtrack von KIZ.

Am Ende wird Klytämnestra selbst in die Logik der Zerstörung hineingezogen, der sie mit dem Ausruf „Nie wieder Schicksal!“ entkommen will. Kluge Konstruktion, widersprüchliche Figuren, schlanke und kraftvolle Sprache, alles mit hoher Intensität und viel Bühnennebel inszeniert, während sich das Publikum wie feindliche Heere auf Tribünen gegenübersitzt – der Höhepunkt des Tages!

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