Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Krise der westlichen Demokratien gibt es nicht von der Politik, sondern im Theater. Aktuell lohnt ein Blick auf Inszenierungen an den Staatstheatern Oldenburg tief im Westen und Schwerin tief im Osten. Dabei ist dem aus Polen stammenden Autor und Regisseur Łukasz Ławicki mit der Uraufführung seiner „Piratenrepublik“ in der Exerzierhalle in Oldenburg ein bewegender, erhellender Abend gelungen. Nach Motiven des Buches „Piraten“ von David Graeber, dem 2022 verstorbenen linken Kulturanthropologen, entwirft er gemeinsam mit dem Dramaturgen Reimar Ortmann eine Utopie, in der die Bevölkerung der Stadt Oldenburg und des Landkreises Ammerland eine „Piratenrepublik“ ausruft.

Das Publikum ist Teil der staatsfernen, demokratieverdrossenen Bewegung, wird sogleich zur Vollversammlung jener Republik deklariert, die in einer Nachrichtensendung auf einer halbrunden Projektionswand kurz beschrieben wird. Die digital bespielte Wand bildet die Wandelkulisse des Abends, auf der Schlagzeilen im Originaldesign bekannter Medienmarken die Diskussion begleiten.

Die Republik aber soll basisdemokratisch funktionieren, denn so beschreibt Graeber in seinem Essay die Piratenkönigreiche auf Madagaskar vom frühen 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Das wirkt nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Die Piratenkönige an Land waren wie die Kapitäne der Piraten von der Mannschaft gewählt und konnten jederzeit wieder abgesetzt werden.

Nach der Ausrufung der Republik, die in Oldenburg im Zuge einer Verfassungskrise in Berlin nach dem Zerbrechen der Europäischen Union im Jahre 2026 möglich wird, steht auch gleich die erste Präsidentinnenwahl an. Der Wahlkampf erinnert an eine Fortsetzung des legendären Kandidatinnenduells zwischen Sahra Wagenknecht (BSW) und Alice Weidel (AfD) im WELT-Fernsehen mit noch theatralischeren Mitteln. Moderiert wird es im Theater von der gewollt unglücklichsten Figur des Abends, dem Dritten im Bunde der Volksrevolution, einem gewissen Jürgen Wolff (windet sich als Graeberalias herrlich: Darios Vaysi). Auf dessen Mist ist die Idee der Piratenrepublik gewachsen, nun versucht er, die Politik hineinzumoderieren.

In Oldenburg treten gegeneinander an: Die ehemalige Linke Liselotte Meyer (intellektuell, streng, kalt: Anna Seeberger) in roter Bluse, mit roten Stöckelschuhen und roter Brille zum schwarzen Anzug eine urschöne Persiflage auf die BSW-Namenspatronin. Ganz im unschuldig weißen Anzug, unter dem zunächst nur eine verdächtig blaue Bluse hervorlugt, in weißen Sneakern, stellt sich ihre Kontrahentin Frauke Stein vor (dynamisch, spöttisch, leicht angefasst: Esther Berkel), die sogar in der Mimik an die Vorsitzende einer in Teilen als gesichert rechtsextrem geltenden Partei erinnert (Ławicki entwarf auch die Kostüme).

Klasse, aber nicht jedermanns Sache: Auch die Besucher werden von Wolff befragt, was sie unter „Freiheit“ verstehen, dem wohl dehnbarsten politischen Schlagwort, dem Gummibegriff, der an diesem Abend zur Kenntlichkeit entstellt wird – sowohl in seiner linksliberalen, als auch in seiner libertären Ausprägung, in der sich anarchistische Elemente frei nach dem argentinischen Präsidenten Xavier Milei oder dem US-Präsidenten Donald Trump einschleichen.

Dann verläuft die Inszenierung wie die Französische Revolution im Zeitraffer. Natürlich frisst die Revolution ihre Kinder. Obwohl die Besucher im Saal mit mehr als 80 Prozent Meyer wählen, wird durch Brief- und Onlinestimmen Stein zur ersten Präsidentin der Piratenrepublik. Meyer wird Vize. Basisdemokratische Elemente werden bald abgeschafft, aber weil die Wirtschaft brummt, wird das populistische Duo zweimal wiedergewählt. Bis die Herrschaft 2029 endet. Stein, die Sozialleistungen abgeschafft hat, wird von einem verzweifelten Oldenburger ohne Krankenversicherung erschossen. Meyer übernimmt ihr Amt und kündigt einer verbitterten, verlogenen Traueransprache Ruhe und Versöhnung an, die allerdings hätten ihren Preis „den unsere Feinde teuer bezahlen werden“. Die Zuschauer, von denen einer die „Phrasendrescherei“ schon früh entlarvte, fühlen sich zu Recht um ihre Republik betrogen.

Auch in Schwerin begibt sich ein Regisseur auf Zeitgeistforschung. „Uns geht es schlecht“, ruft das Volk im dortigen Staatstheater in „Hotel Savoy“ nach dem Roman von Joseph Roth immer wieder im Chor. Das Volk trägt Ledermäntel, die genauso gut aus einem versteckten Gestapo-Hauptquartier wie aus einem Depot der Staatssicherheit der DDR stammen könnten. Im Klageruf drückt sich eher eine Stimmung aus denn eine konkrete Notlage, auch wenn die Zeiten nicht rosig sind – kurz vor der Weltwirtschaftskrise in Weimar. Der Aufschrei der gelernten Untertanen des Kaiserreichs stammt von Gestrandeten, von Heimkehrern aus mehrjähriger Kriegsgefangenschaft im Osten auf dem Weg nach Westen.

Außer der groben Himmelsrichtung haben sie kaum eine konkrete Richtschnur für ihre Handlungen, hoffen in diesem westlichsten Hotel im Osten auf Rettung durch einen Ausgewanderten, der es in Amerika zu Reichtum gebracht hat. Kaum kehrt dieser Mann namens Henry Bloomfield (souverän: Marko Dyrlich) in den kleinen Ort zurück, aus dem er stammt, schallt dem vermeintlichen Heilsbringer, der Schlachtruf entgegen: „Uns geht es schlecht.“ Regisseur Jakob Weiss entlarvt in seiner Inszenierung am Staatstheater Schwerin gleich mehrere Ursachen für die aktuelle politische Misere.

Im Osten gibt es sie noch, die gelernten Untertanen, denen es in einem System, das auf Eigeninitiative setzt, schon aus Prinzip schlecht geht. Und im Westen geht es jenen nicht anders, die sich als Verlierer der digitalen Disruption erleben, die gerade mit der Künstlichen Intelligenz ihre zweite Stufe zündet. Beide Gruppen haben das Gefühl, dass niemand auf sie wartet. Das mündet in Verzweiflung, in Trotz, in Staatsferne und in einen unterhaltsamen Theaterabend.

Die Bühnenfassung, die Weiss gemeinsam mit Dramaturgin Nina Steinhilber erstellt hat, begreift den Anarchisten Gabriel Dan (sympathisch zweifelnd, trotzend, hoffend: Till Timmermann) als Prototyp eines Mannes, der vom Krieg traumatisiert mit staatlicher Herrschaft oder Gehorsam nichts mehr am Hut hat. Damit repräsentiert er den maulig auf seine Chance wartenden Glücksritter, dem keine Bindung an die Demokratie unterstellt werden darf. In der Wirtschaftskrise lässt sich Dan weder von den eigenen Gefühlen für die Varietétänzerin Stasia (schlägt sich glaubwürdig durch: Jennifer Sabel) leiten, noch von den Forderungen seines alten Kriegskameraden Zwonimir (fantastisch proletarisch: Rudi Klein), endlich weiterzuziehen. Als der aus Westen heimgekehrte Milliardär Bloomfeld Dan als Sekretär anstellt, erweist er sich als flexibel. Die Gunst der Stunde nutzend, wimmelt er sämtliche Bittsteller souverän ab.

So treffend die Inszenierung im Kern ist, so schief ist sie angelegt. Die finstere kapitalistische Figur Ignatz (overacting: Astrid Meyerfeldt), der Hotelbesitzer, der inkognito als Portier, Page und Liftboy den Betrieb seines Ladens steuert und die Gäste gezielt in die Schuldenfalle treibt, legt Weiss als halb komische Figur an. So ist sie dem Slapstick so nah, der Erzählung zu fern. Anstelle des von Ignatz bedienten Fahrstuhls, im Roman Leitmotiv und Symbol für die Verbindung zwischen den ansonsten streng getrennten, unterschiedlichen sozialen Schichten der Hotelbewohner klotzt Weiss als sein eigener Bühnenbildner im Stil des Expressionismus à la Wilhelm Friedrich Murnau zwei mächtige Himmelsleiter-Treppen auf die Bühne, die nicht mehr als ein hübsches Bild ergeben. Das überzeugende Ensemble läuft fleißig treppauf, treppab, aber die Enge des Fahrstuhls, die Beklommenheit, Ignatz ausgeliefert zu sein, können sich nicht einstellen.

Termine am Staatstheater Oldenburg, Exerzierhalle: 25.4., 22.,26.,28.,29. Mai; Termine am Staatstheater Schwerin: 3.,8. Mai

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