Als Dichter und Dramatiker scheut Wedekind skandalöse Themen nicht: Sein Drama „Frühlings Erwachen“ bringt 1891 Pubertätsszenen auf die Bühne, als viele noch gar nicht wissen, was das ist. Sein satirisches Gedicht „Im heiligen Land“ über Kaiser Wilhelms II. Palästinareise zwingt ihn 1898 zur Flucht nach Paris. Schon vorher zeigt er keine Berührungsscheu gegenüber Tätigkeiten, die oft als literaturfern gelten: Von November 1886 bis April 1887 ist er ‚Vorsteher des Reclame- und Pressbureaus‘ der Firma Julius Maggi in Kemptthal bei Zürich, nachdem sein wohlhabender Vater aufgrund mangelnder Studienleistungen des Sohnes den Geldhahn abgedreht hat.

Anschließend verfasst er auf Honorarbasis noch drei weitere Monate lang Werbetexte für Maggi, insgesamt 20 Annoncen und 160 ‚Reclamen’, also redaktionell anmutende Inserate. Wie schon beim Design der Maggi-Flasche will der Firmeninhaber auch im Bereich der Werbung neue Wege gehen. Deswegen reagiert er auf die Bewerbung des damals gerade 22-jährigen, der mit keinerlei Berufserfahrung, aber mit einem Talent zur Fertigung von Gedichten aufwarten kann, umgehend mit dem berühmt gewordenen Telegramm: „Sie können sofort eintreten. Heiße Sie als Mitarbeiter willkommen. Maggi.“

Wedekind entwickelt bereits früh ein Sensorium für die Verbindung von Kunst und Kommerz: Seine ersten Gedichte schreibt er nicht etwa für die Schublade, sondern nutzt – keinesfalls üblich in der damaligen Zeit – einen Hektographen, den ihm 1882 ein Jugendfreund schenkt, zu ihrer Vervielfältigung und Verteilung. Vier Jahre später lobt er dann in Vers und Prosa „Maggis’s Suppen-Nahrung als grundlegende Basis zu neuem, frischem Ringen des Menschengeistes“, weil sie „binnen 15 Minuten eine Suppe liefert, die bei delicatem Geschmack alles enthält, was zum Gedeihen des Körpers nöthig ist“. Ähnlich hymnisch wird Wedekind danach selten wieder schreiben, wiewohl der Körper sowohl in seinen Reklamen als auch in seinem dichterischen Werk ein zentrales Motiv einnimmt.

„Was dem Einen fehlt, das findet

In dem Andern sich bereit;

Wo sich Mann und Weib verbindet

Keimen Glück und Seligkeit

Alles Wohl beruht auf Paarung;

Wie dem Leben Poesie

Fehle Maggi‘s Suppen-Nahrung

Maggi‘s Speise-Würze nie!“

Wedekind gibt gern mit witzigen Anspielungen, parodistischen Zitaten und satirischen Abschweifungen, mit ironischen Anmerkungen, geistreichen Wortspielen und humoristischen Vergleichen den werbenden Entertainer. Darüber hinaus wird ihm „Maggis’s Suppen-Nahrung“ zum Inbegriff einer löslichen Moderne, omnipräsent auch dort, wo man sie nicht vermutet:

„Vater, mein Vater!

Ich werde nicht Soldat,

Dieweil man bei der Infantrie

Nicht Maggi-Suppen hat!

Söhnchen, mein Söhnchen!

Kommst du erst zu den Truppen,

So ißt man dort auch längst nur Maggi’s

Fleischconservensuppen.“

Die wiederum vermochten selbst einen kranken Elefanten im zoologischen Garten von Washington zu heilen, wie Wedekind in einer anderen Reklame zu erzählen weiß. Julius Maggi, der gern im Stile eines Deutschlehrers die Arbeiten seines Angestellten kommentiert, zeigt sich durchaus angetan von dessen Humor: „Eine vortreffliche Schwindelreklame nach amerikanischen Mustern. Sehr brauchbar! Nur frage ich mich, ob ausdrücklich in der Reklame durch das Datum angedeutet werden soll, daß man den geneigten Leser in den April schickt. Ich würde das entschieden nicht thun!“ Schwindeln nach amerikanischem Muster – offenbar schon vor mehr als 100 Jahren ein Begriff.

Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an

Thomas Wegmann ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Seine Studie „Dichtung und Warenzeichen. Reklame im literarischen Feld 1850–2000“ ist bei Wallstein erschienen.

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