„Grias enk!“ Die Tiroler Begrüßungsformel geht dem Wahl-Salzburger und Ex-Münchner Jonas Kaufmann schon einigermaßen glatt von der Tonbandstimmenlippe vor den Inszenierungen. Ist der Tenor-Weltstar doch nun im Zweitberuf der Chef der Erler Festspiele. Er ist der dritte Intendant in dem Tiroler Dorf an der Inntal-Autobahn und soll für Glamour und Betriebssolidität sorgen. Zuvor regierten hier seit 1998 der Gründer Gustav Kuhn, der nach diversen Vergehen, u.a. MeToo-Vorwürfen, 2018 davongejagt wurde, und der seither konsolidierende Frankfurter Opernintendant Bernd Loebe.

Kaufmanns Coup: Er hat neben bewährten lokalen Kräften Ilias Tzempetonidis als künstlerischen Berater verpflichtet. Der alerte Grieche kann als langjähriger Castingchef der Opéra de Paris, der Mailänder Scala und aktuell des Teatro San Carlo in Neapel auf ein breites Netzwerk erstklassiger Sängerkehlen zurückgreifen; zudem strickt er die Besetzungen bei einem Boutique-Festival in einem Luxushotel auf Mallorca sowie für Gustavo Dudamels zukünftige konzertante Opern mit dem New York Philharmonic.

In Erl – dem kleinen Kuhdorf mit seinen zwei benachbarten Theatern, einem nicht beheizbaren Passionsspielhaus mit 1500 Plätzen von 1959 und einem neuen Festspielhaus mit knapp 900 Plätzen aus dem Jahr 2014 – geht man nach vorsichtig, aber künstlerisch großdenkend voran. Zur Weihnachtsaison spielt man eine Traditionsoper in einer stückkonformen wie unkomplizierten Inszenierung plus ein konzertantes, meist mit vielversprechenden Vokalnovizen besetztes Belcanto-Stück. Den Anfang machten „La Bohème“ und Bellinis „I Puritani“; wobei gleich das Tzempetonidis-Telefonbuch gefragt war, weil der Koloraturstern Lisette Oropesa engagiert werden konnte. Das Inntal schwelgte im Sangesglück.

Im Juli sind zwei szenische Premieren modernen Musiktheaters sowie der konzertanten trilogia populare Verdis („Rigioletto“, „Traviata“, „Trovatore“) aufgeboten. Und jetzt, zu Ostern, gab es erstmals eine szenische Premiere und – weil im Passionsspielhaus parallel das Leiden Christi von der Dorfbevölkerung zelebriert wird – erstmals auch Richard Wagner.

„Parsifal“ von Wagner

Für die „Parsifal“-Aufführungen steht Kaufmann auch selbst singend auf der Bühne. Im Sommer folgt mit ihm noch ein Wagner-Konzert, ansonsten möchte er sich nächste Saison zurückhalten; der „Parsifal“ soll aber zur Erler Ostertradition werden.

Und dafür bringt die bejubelte Produktion auch alles mit. Ein klares, durchsichtiges, jeden Sänger wie den Chor deutlich hörbar machendes Klangbild etwa. Festspielchor- wie Orchester, nach wie vor mehrheitlich weißrussisch, aber inzwischen ordentlich bezahlt, spielen und singen leuchtend, strukturiert, vollmundig. Asher Fisch wird nach einem lähmigen Vorspiel und einem gefühlt endlosen ersten Akt beweglicher, flexibler, farbenreicher und dramatischer in seiner insgesamt pastellig-sanften Wagner-Lesart.

In Erl hat man nicht viel Probenzeit, vor allem sind selten alle Sänger gleichzeitig da. Dafür sieht sich die Inszenierung von Philipp M. Krenn, bisher vor allem als zweiter Regiemann neben Philipp Stölzl wahrgenommen, sehr ordentlich an. Die Personenregie ist nicht sonderlich subtil, die Protagonisten reagieren je nach Temperament aufeinander. Im ersten Akt hat Heike Vollmer aus sechs lamellenbewehrten Dekoelementen zwischen Heizkörper und Harfe eine zur Rampe ausgerichtete, strahlend weiße Mischung aus Altarretabel und Wellness-Tempel entworfen. Detoxing als Arrangement. Ebenso dekorativ wirken die vorwiegend hellen Kostüme von Regine Standfuss, die vom Renaissance-Knappenwams über das Parsifal-Hodie bis zum Kundry-Rolli und Gurnemanz-SF-Ornat reichen.

Die kürzeste aller Wagner-Rollen für Tenöre

Zu Beginn sehen wir Jonas Kaufmann als Figur Reiner Tor von hinten über die Wiese aufs Festspielhaus zu- und durch die leeren Sitzreihen wandern, die Bühne betritt er ohne toten Schwan durch einen heruntergerissenen Vorhang. Und füllt sie gleich kraft seiner Persönlichkeit. Richtig zu vokalisieren hat er in dieser kürzesten aller großen Wagnertenor-Rollen sowie im zweiten Akt. Die sinnstiftende Begegnung mit Kundry singspielt er mit inzwischen erwartbar guttural dunkler, aber intensiver Stimme, die Höhen kommen einigermaßen.

Sensationell lauernd wie attraktiv, verwundbar und verführerisch ist die katzenhafte Kundry der sensitiv-sinnlichen Irene Roberts, die allerdings viermal ins (36 Grad warme) Wasserbecken muss; so wie auch der tiefsinnig leidende Amfortas von Michael Naghy im weißen Rollstuhl. Die einstige Höllenrose wird schließlich frisch getauft im Nass entsorgt, während der Wanderer Parsifal halbnackt zum Habitumzug auf einem Schwebebalken balanciert. Am Ende, dazu fährt auch der Orchestergraben hoch, schreitet der Chor in Zivil durch den Zuschauerraum nach oben und lässt die esoterische „Erlösung dem Erlöser“-Botschaft immersiv in unsere Welt hinausschallen.

Vorher haben aber noch der sonor-sachliche, in der Stimme unermüdliche Gurnemanz von Brindley Sherratt sowie der jenseitig hohle Titurel von Clive Bayley gefallen; vor allem aber der Klingsor-Debütant Georg Nigl: Der selbstkastrierte Ex-Gralsritter im Kleidchen, situiert in einer Art Kreativraum für Drip Painting, mit einer dekorativ bunt bespritzen Blumenmädchenschar als Vorhut, wird bei ihm zu einer fulminant spitzstimmigen Solonummer als nonbinäre Delfter Kachel.

Man fragt sich zwar, was in dieser vor allem zweckdienlichen „Parsifal“- Produktion der einstige Konwitschny-Dramaturg Werner Hintze geistig beigetragen hat, aber immerhin fährt in der Entschleunigungsoase im ersten Akt sogar noch ein selbstredend weißer Gralskelch empor.

Weitere angekündigte Top-Gastregisseure für Erl sind Deborah Warner, Calixto Bieito oder Damiano Michieletto. Sie alle machen deutlich: Erl möchte künftig nicht nur vokal in der oberen Festspielliga mitsurfen. Für einen Ort mit gerade mal 1629 Einwohnern ein gehöriger Anspruch.

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