Im Osten kennt man Judith Rakers aus dem Westfernsehen. 19 Jahre lang sprach sie die Nachrichten der „Tagesschau“ aus Hamburg in der ARD. Für Radio Bremen moderiert sie „3 nach 9“, gemeinsam mit Giovanni di Lorenzo, dem Chefredakteur der „Zeit“. Die Wochenzeitung, ebenfalls aus Hamburg, leistet sich für ihre wenigen Leser in den neueren Bundesländern eine Regionalbeilage mit dem Titel „Zeit im Osten“ und Geschichten, die im Westen offenbar niemanden interessieren.
Nun zieht Judith Rakers in den Osten. Nicht einfach nur so, sondern mit einer Instagram-Erklärung unter überwältigender öffentlicher Anteilnahme. Nach ersten Gerüchten postete sie: „Es war kein Aprilscherz … Die Farm zieht nach Rügen. Im Sommer. Und alle Tiere kommen mit.“ Die Tiere und die Farm sind ihr Projekt als Influencerin, bisher in Hamburg. Neben Videos, Bildern und Berichten ihres Landlebens bei Instagram veröffentlicht sie Bücher darüber wie „Judiths kleine Farm“ und „Homefarming“. Ihre Gemeinde ist, was ihre Umzugspläne angeht, uneins. Manche Follower wünschen ihr alles Gute, Glück und nette Nachbarn auf der rauen Ostseeinsel. Einer schreibt: „Den Mutigen gehört die Welt!“ Ein anderer: „Was wird dann aus der bisherigen ach so schönen Heimat?“ Und wieder ein anderer: „Ausgerechnet in den Osten!!!! Schade!!!!!“
Auch die alten Medien sorgen sich um sie auf Rügen. „Bild“ fragt, ob sie auf dem „schicken Sylt“ oder dem „sonnigen Mallorca“ nicht schöner und sicherer aufgehoben wäre. Der Hamburger „Spiegel“ schreibt in seiner eigenen „Dunkeldeutschland“-Tradition: „Capri, Mallorca, Kuba – es gäbe so viele schöne, sonnige Inseln, um seinen Lebenstraum zu verwirklichen. Aber nein, TV-Moderatorin Judith Rakers, 49, zieht es ausgerechnet Richtung Osten.“ Die „Berliner Zeitung“ ist als Leitmedium des Ostdeutschseins begeistert: „Judith Rakers, 49, Ex-‚Tagesschau‘-Sprecherin und Moderatorin wird Ossi!“ Und „Judith Rakers macht rüber!“
Man könnte dem Westen, um ihr beizustehen, Rügen etwas näher bringen. Rügen ist nicht Nowaja Semlja oder Kamtschatka, sondern lediglich die Insel zum ostdeutschen Nordkap mit den malerischen Kreidefelsen, seinen caspardavidfriedrichhaften Landschaften und Ulrich Müthers retrofuturistischen Betonschalenbauten, Bademeistertürmchen und Bushaltestellenhäuschen. Wer’s gewaltiger mag: Die Nazis haben gleich neben dem alten Seebad Binz ihre groteske Kraft-durch-Freude-Ferienfestung Prora hinterlassen. Aber, nach den vielen Westautos zu schließen, die auf Rügen unterwegs sind: Judith Rakers bleibt dort keineswegs allein als Nordwestdeutsche unter einheimischen, vielleicht feindseligen Insulanern.
Noch einmal zurück zu Instagram: „Oh je, ist das nicht eine AfD Hochburg? Ob das eine gute Idee ist?“ – „Was wollen Sie im Land der AfD Wähler? Ob das gut geht!“ – „Oh neeeeeein … Farm goes Zone.“ – „So weit weg von ‚allet‘… Flood the zone with love.“ Aber auch: „Schön so im Osten. Hier sind die Leute noch normal und haben begriffen, was so in Deutschland los ist.“ Judith und der böse, blaue Osten. 37,3 Prozent bekam die AfD bei der Bundestagswahl im Kreis Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald. Der frühere Wahlkreis von Angela Merkel gehört heute Dario Seifert von der AfD, laut WELT völkisch gesinnter „Rot-Kreuz-Träger“. Seifert war mal in der NPD, er stammt aus Recklinghausen, tief im Westen.
Einerseits kann es passieren, die Wahrscheinlichkeit liegt bei rund eins zu drei, dass man auf Rügen auf einen der Wähler trifft, der glaubt, als Ostdeutscher besser zu wissen, was mit Deutschland los ist. Oder auch auf einige zu spät geborene Ostdeutsche der Generation Z, die sich als Naziskins verkleiden, „Ost-Ost-Ostdeutschland!“ krakeelen und die sogenannten Baseballschlägerjahre ihrer Eltern aus den frühen Neunzigern nachspielen. Andererseits wäre der Osten anders ohne einen Westen, der zwar niemanden mehr rüber schickt zum „Aufbau Ost“ mit „Buschzulage“ in die „Zone“, sich aber östlich von Niedersachsen immer noch das andere vorstellt.
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