Binnen 7 Tagen hat sie sich fast 3 Millionen Mal verkauft: Die Fortsetzung der Geschichte um die Drachenreiterin und Blitzeschleudererin Violet Sorrengail, die am Basgiath War College dem charismatischen Rebellensohn Xaden Rioson verfällt und sich mit einer verschworenen Gruppe von Gefährten aufmacht, einen ganzen Kontinent vor jener tödlichen Gefahr zu retten, die die Obrigkeit jahrhundertelang vertuscht hat. Der dritte Band von Rebecca Yarros’ New-Adult- oder Romantasy-Romanreihe „Flammengeküsst“ wurde im Februar zu einer der weltweit erfolgreichsten Neuerscheinungen aller Zeiten. Das verdankt Yarros auch BookTok & Co: Ohne hashtagverstärkte Laienrezensionen und Influencer-Videos in den sozialen Medien hätten Bücher wie ihre nie die Verbreitung gefunden, die sie heute haben. Denn in den klassischen Medien spielen Buchgenres namens „New Adult“, „Romance“ und „Romantasy“ erst eine Rolle, seit sie zum Überraschungsphänomen des Buchmarkts wurden.

Das Phänomen ist für den Buchhandel ein tolles Geschäft: Die Thalia Bücher GmbH etwa schloss das Geschäftsjahr 2023/24 mit einem Umsatzplus von acht Prozent ab, meldete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ im Oktober. Ein Wachstumstreiber sei die Nachfrage in den Genres Young und New Adult. Sie habe in der Altersgruppe zwischen 12 und 29 Jahren, besonders bei weiblichen Jugendlichen, stark zugenommen. Auch auf Buchmessen ist der Trend sichtbar. 2024 hat Frankfurt zum ersten Mal eine ganze „New Adult“-Ebene eingerichtet, und auch in Leipzig tummelten sich die Fans des Genres, das im englischsprachigen Raum seit 2009 boomt. Damals schrieb die St. Martin’s Press aus Manhattan – die Buchsparte im Macmillan-Konzern, die für Unterhaltungsliteratur steht – einen Wettbewerb aus. Man sei auf der Suche nach neuer, innovativer Belletristik mit Protagonisten, die etwas älter seien als diejenigen, die die klassische Young-Adult-Sparte (also Jugendliteratur) mit Geschichten versorge und ein erwachsenes Publikum ansprechen könnten. Eine Art „älterer Young Adult Fiction“ oder eben „New Adult“.

Bezeichnend war der Preis, den man ausschrieb: Die drei besten Einsendungen würden ein Exemplar von „Tempted“ von P.C. und Kristin Cast erhalten, den sechsten Teil der Romanserie „Hause of Night“, in der die heute 64-jährige Autorin zusammen mit ihrer 1986 geborenen Tochter von den Internats-Abenteuern einer 16-jährigen, die zum Vampir wird, erzählt. Ein Preis für Fans war das: New Adult war von Beginn an ein Bereich, in dem Lesen und Schreiben nah beieinanderliegen. Man könne nicht für Bücher haftbar gemacht werden, die zu einem späteren Zeitpunkt von der St. Martin’s Press veröffentlicht würden und einen ähnlichen Inhalt hätten wie eine Einsendung im Rahmen des Wettbewerbs, las man in der Ausschreibung noch. Ein Bereich war das also von Anfang an auch, in dem Originalität nicht an erster Stelle steht. Oder anders gesagt: Wo viele epigonal schreiben, ist der Ideenklau nicht weit.

Teil unserer emotionalen Hygiene

Seit 2009 haben sich immer mehr Verlage eine eigene New-Adult-Sparte zugelegt. Rebecca Yarros’ Weltbestseller etwa erscheinen auf Deutsch im angesehenen dtv-Verlag. Was bislang kaum geschieht: Dass die Literaturkritik in Feuilletons und Literaturzeitschriften Romane von Autorinnen – es sind meist Frauen, die New-Adult-Romane schreiben – wie Colleen Hoover, Mona Kasten oder Sarah J. Maas bespricht – als Romane und nicht als Phänomen des Buchmarkts. Ein Grund dafür ist freilich, dass für das Verhältnis zwischen New Adult und etablierter Literaturkritik das gilt, was der Stanforder Literaturwissenschaftler Franco Moretti einmal über die Masse der Bücher, die im „Schlachthaus der Literatur“ landen und es nie in einen Kanon schaffen, schrieb: Draußen bleibt eben all das, was nach den Kriterien des Kanons draußen bleiben muss. Genauso fehlt einer Literaturkritik, die ihre Objekte daran misst, was ein Handke, Mosebach, eine Jelinek schreiben, das Besteck, um mit den Megasellern der Young-Adult-Sparte gemäß den Kriterien, die diese Sparte selbst formuliert, umzugehen.

Der Preis dafür ist, dass ein großer Teil dessen, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu „das literarische Feld“ nennt, nicht in den Blick der etablierten Kritik gerät. Was ein Versäumnis sein könnte, denn wie Morettis Stanforder Kollege Mark McGurl im vergangenen Jahr im Interview mit der „Literarischen Welt“ sagte: Zwar wirke diese Literatur heute vor allem therapeutisch. „Aber sie ist nicht klein. Sie hat ihren Platz. Sie ist Teil unserer emotionalen Hygiene.“ Zudem, das ist eine der delikateren Pointen von McGurls Buch „Everything and Less. The Novel in the Age of Amazon“ (Verso, 2021), bleibt der etablierten Literaturkritik, die New Adult und Romantasy nur mit der Kneifzange anfasst, so ihre eigene Realität verborgen: Dass nämlich der eigene Gegenstand, die „hohe“ oder „ernste“ Literatur in der Masse all dessen, was geschrieben, veröffentlicht und gelesen wird, selbst zu einer Sparte geworden ist. Und der feuilletonistische Kritiker somit selbst zum Genrespezialisten, der doch im heiligen Namen der Kunst alle Genre-Literatur verwirft.

Wenn das Feuilleton nicht nur schweigt zur New-Adult-Revolution, liest man neben vielen kulturkritisch gefärbten Selbstbehauptungsversuchen und gelegentlichen Aufrufen zur Horizonterweiterung oft noch etwas anderes: Nicht nur um tatsächliche oder vermeintliche literarische Mängel dieser Superseller geht es dann, sondern auch um Moral. Man sorgt sich, ob das, was diese vielen jungen Frauen da verschlingen, ihnen nicht völlig falsche Vorstellungen darüber vermittelt, wie es um die wirkliche Wirklichkeit bestellt ist. Hier wiederholt sich das, was als Lesesuchtdebatte im ausgehenden 18. Jahrhundert bekannt wurde. Damals ging es um Romanleserinnen, die über ihrer exzessiven Lektüre häusliche Pflichten vernachlässigen würden und – beflügelt von den falschen Schilderungen von Liebe, Sex und Leidenschaft in den Romanen, die Männer für sie geschrieben hatten – ihre Ehre verlören. Die Plot-Konstellation, die Kritikern damals wie heute Kopfzerbrechen bereitet, ist erstaunlich stabil: dunkler, geheimnisbeladener und viriler junger Mann trifft auf eine junge Frau, die sich erst noch finden muss.

Auch Yarros’ „Flammengeküsst“-Reihe hat eben eine solche junge Frau zur Erzählerin und Heroine. Der früh verstorbene Vater war Schriftgelehrter und somit Hüter der Wahrheit über das Königsreich, in dem Violet auf ihre Heldenreise geschickt wird. Schriftgelehrte wollte auch sie werden, was Yarros nicht nur einige Möglichkeiten des narrativen „world buildings“ bietet, der Erschaffung einer historischen und geografischen Welt mit Mitteln der Literatur. Immer wenn sie nervös ist, rezitiert Violet eben das: historische und geografische Daten. Darüber hinaus wird sie so als Leserin präsentiert, ein Anker für identifikatorische Lektüre auch derer, die eher Bücherwürmer als Drachentöter sind. Schließlich erlaubt Violets Doppelbegabung ihrer Schöpferin, Elemente von Dark Academia – das ist der dunkle, kleine Bruder des Campus-Romans – in eine Geschichte einzuweben, die sich streckenweise liest, als sei sie besonders clever aus Erfolgstiteln wie „Harry Potter“, „Tribute von Panem“ und „Game of Thrones“ collagiert.

Statt sich den Akten, Folianten und somit der Wahrheit (die vielleicht nur eine vermeintliche ist, in dieser Geschichte von Misstrauen und Täuschung), zu verschreiben, wird Violet aber von ihrer Mutter gezwungen, in ihre, genauso wie die Fußstapfen ihrer Geschwister zu treten – sie wird Drachenreiterin. Der Sohn und Bruder, das ist zumindest die Version, der der weibliche Teil der Sorrengail-Familie lange Glauben schenken muss (man kann nicht über „Flammengeküsst“ sprechen, ohne zu spoilern), fiel einst im Kampf gegen Rebellen. Getötet worden sei er ausgerechnet vom Vater jenes Geschwaderführers, dem Violet im War College unterstellt wird, so die „offizielle“ Version. Gewarnt von der Schwester, geht Violet freilich zunächst davon aus, Xaden wolle seinen Vater an ihr rächen, denn der wurde von der Mutter, einer Generalin, hingerichtet. Dennoch fühlt sie sich auf magische Weise von dem schönen und starken jungen Mann angezogen.

Romane und Bücherserien wie „Flammengeküsst“, die Fans, Buchhandel und auch Literaturwissenschaftler mit dem Kofferwort „Romantasy“ (aus Romance und Fantasy) charakterisieren, haben oft einen „enemies-to-lovers“-Plot. Der nimmt auch hier seinen Lauf. Erst zögerlich, ängstlich, dann leidenschaftlich wird aus dem gefürchteten jungen Drachenreiter und Vorgesetzten der Geliebte. Auf Leben und Tod verbunden dadurch, dass ihre Drachen in einer engen Beziehung stehen, ist die Beziehung unter den jungen Menschen stets von der Spannung zwischen Schicksal und freier Wahl bestimmt: Denn stirbt einer, stirbt die andere auch.

Zwei Minuten für ein Korsett

Zunächst ausgebildet von Xaden, wird ihm Violet, ausgestattet durch die Gabe, Blitze zu schleudern, in soldatischer und vor allem magischer Hinsicht bald ebenbürtig. Dennoch wird ihre Liebe belastet davon, dass sich Xaden als Führer einer Gemeinschaft entpuppt, die die einzige Rettung gegen bösartige Zauberer sein könnte, die Violet, nach abgebrochener Schriftgelehrtenkarriere, nur aus dem Märchen kennt. Er hat also Geheimnisse vor der Gefährtin. Sie will das nicht akzeptieren. Entzieht sich ihm. Liebt ihn aber trotzdem. Vor allem begehrt sie ihn. Macht das schon eine toxische Beziehung? Das zumindest äußert eine Rebellin im zweiten Band von „Flammengeküsst“. Und der Sex? Darauf, was Romantasy-Leserinnen „Spice“ nennen, muss man im ersten, fast 800-seitigen Band von „Flammengeküsst“ lange warten. Schon weil Violet, ganz anders als manche ihre Kommilitonen, sich nicht dem fröhlichen und leidlich diversen Ringelpiez des Internatslebens anschließt, sondern eher konservativ auf den Richtigen wartet.

Also Xaden, dessen Körper die Ich-Erzählerin nicht müde wird, zu preisen. Während Violet, angelehnt wohl an die Autorin, die am Ehlers-Danlos-Syndrom leidet, sich andauernd Gelenke auskugelt und im Gegensatz zu ihren Geschwistern und den anderen Kadetten sehr schmächtig ist. Dafür wird sie allseits für ihre Intelligenz verehrt, der Grund auch dafür, dass der zweitstärkste Drache im ganzen Königreich sie zur Reiterin erkoren hat.

Die israelische Soziologin Eva Illouz schrieb mit Blick auf den BDSM-Bestseller „Fifty Shades of Grey“ einmal, der dort reichlich geschilderte Sex offenbare die Möglichkeit, Rollenverhältnisse auszuleben, die im Sozialen nicht mehr akzeptiert würden. Starker Mann, schwache Frau, das ist in Zeiten von weiblichen CEOs, Kommissionspräsidentinnen und Bundeskanzlerinnen einfach nicht mehr Mainstream. Sollte Illouz' Diagnose auch auf „Flammengeküsst“ zutreffen, auf Xaden und Violet im Bett (oder im Duschraum einer Kaserne), dann höchstens in Spurenelementen. Was hier vorherrscht, ist eine Mischung aus psychologischer Introspektion, magisch-läppischem Geschehen (die Erregung entlockt Violet elektrische Entladungen, die ein Fenster aus dem Rahmen sprengen) und doch recht zahmer Verbal-Erotik: „Ich glaube, mit zwei Minuten überschätzt du deine Fingerfertigkeit, was das Öffnen eines Korsetts angeht“, fordert sie ihn beim ersten wirklichen Sex heraus, nachdem er genau das angekündigt hat. „Ich stoppe die Zeit.“

Kuschelsex ist das nicht, nicht nur das Fenster geht zu Bruch im Kadettenzimmer, doch seine Frage am Ende, „Geht es dir gut?“, offenbart etwas anderes als den Macho, dessen „Tödlichkeit“ im Kampf Violet immer wieder erregt, obwohl ihr das selbst unheimlich ist. Zum Vorbild einer toxischen Beziehung taugen Violet und Xaden nicht. Eher würde man fragen dürfen, ob diese dann doch spießige Liebesgeschichte nicht die Erwartungen – an junge Männer wohlgemerkt – ins Unrealistische überhöht. Aber wäre das nicht auch eine Erwartung, die man an die Literatur an sich, gute wie schlechte, hat: Der Realität gerade nicht zu entsprechen? In Yarros monogamer Romantasy trifft das durchaus zu.

Rebecca Yarros: Onyx Storm. Flammengeküsst-Reihe, Band 3. dtv, 928 Seiten, 32 Euro.

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