Man kann ihr einfach nicht entkommen. Wer heute Wien besucht, wird zwangsläufig auf sie treffen. Von zahlreichen Souvenirs blickt sie einem entgegen, von Schloss Schönbrunn bis zur Hofburg kann man in ihr Leben eindringen. Der Mythos der schönen, leidenden und widerspenstigen Kaiserin Sisi scheint bis heute ungebrochen. In populären Fortsetzungsromanen wurde Sisi am Anfang des 20. Jahrhunderts als Kunstfigur geprägt, nur 20 Jahre nach ihrem gewaltsamen Tod gab es den ersten Sisi-Film, später wurde Romy Schneider in der Rolle unvergesslich. Nun nimmt die Bestseller-Autorin Mareike Fallwickl („Die Wut, die bleibt“, „Und alle so still“) mit ihrem Theaterstück „Elisabeth!“ den Mythos Sisi gehörig auseinander. „Tatort“-Star Stefanie Reinsperger brilliert in der umjubelten Uraufführung am Wiener Burgtheater.

Das Publikum bei der Premiere am Freitagabend liegt Stefanie Reinsperger zu Füßen. Szenenapplaus kommt auf, nachdem die Schauspielerin durch den Saal auf die Bühne kommt und sich in Sisi-Pose wirft „Was ist nur mit mir geschehen?“, ruft sie im hohen Ton mit viel Pathos. Und setzt noch einmal neu an, probiert es in einem anderen Ton. Ein alter Schauspielertrick, der dem Publikum verdeutlicht, dass wir es hier mit einer Bühnensituation zu tun haben. Ein Abwehrzauber gegen alle Authentizitätsgelüste.

Die „echte“ Sisi, wer oder was auch immer das wäre, bekommt man heute nicht zu sehen. Regisseurin Fritzi Wartenberg – Jahrgang 1997, Absolventin des Wiener Max-Reinhardt-Seminars und bisher unter anderem am Berliner Ensemble mit popfeministischen Inszenierungen aufgefallen – folgt Fallwickls Text und dekonstruiert den Sisi-Mythos.

Schon nach wenigen Minuten ist man überzeugt, dass die 1988 geborene Reinsperger die bestmögliche, ja die einzig mögliche Besetzung für diesen Monolog ist. Ihr körperliches Spiel ist wie ein ständiger Energiefluss, der den Text erfasst. Sie schlägt sich auf die Brust und kullert über die Bühne, sie schreit und weint. Sie nimmt die Zuschauer nicht nur mit, sie reißt sie mit. Geschickt bricht Reinsperger ihr eigenes Spiel immer wieder, die Fallhöhe zwischen Wiener Schmäh und Kommentarebene kann es locker mit den Achterbahnen auf dem Prater aufnehmen.

„Bewegliche Ziele sind schwerer zu treffen, auch emotional“, heißt es an einer Stelle über Sisi. Reinspergers Sisi hingegen bleibt bei aller Beweglichkeit auch emotional greifbar. Bereits in „Phaidras Liebe“, im Berliner Ensemble noch immer auf dem Spielplan, begeisterte Reinsperger mit einem Solo, nun darf man sie mit Lina Beckmann in „Laios“ oder Dimitrij Schaad in „The Silence“ in der Reihe großer Einzelauftritte der jüngsten Theatergeschichte nennen.

Für Reinsperger hat Leonie Falke ein üppiges schwarzes Kleid – nachdem sich ihr einziger Sohn, der Kronprinz Rudolf, 1889 umbrachte, soll Sisi nur noch schwarz getragen haben – entworfen. Knapp 1 Stunde und 45 Minuten kämpft Reinsperger mit diesem Textilungetüm mit meterlanger Schleppe und Korsett, windet sich unter lautem Gestöhne und Ächzen aus den stoffgewordenen Konventionen heraus und legt nach und nach immer mehr Teile dieser Zwangsjacke ab.

Auch die Perücke mit den überlangen Haaren wird unter tätiger Mithilfe des Publikums abgeschnitten. Was wie eine Kurzfassung der modischen Emanzipation der Frau von der höfischen Enge bis zur modernen Luftigkeit erscheint, steht sinnfällig zugleich für ein erzählerisches Freilegen verschiedener Schichten der mit unzähligen Geschichten überlagerten Sisi-Figur.

Als Spielgefährtin schleppt Reinsperger eine leblose Pferdepuppe auf die Bühne. Dass es sich dabei auch um ein Alter Ego der Kaiserin handeln könnte, wird durch die Wortwahl ihres Mannes nahelegt, der Sisi wie ein junges Pferd „zureiten“ und „zähmen“ wollte. Franz Joseph wird von Reinsperger mit umgehängtem Backenbart verkörpert, wenig überraschend nicht als Sympathieträger.

Reinsperger schmückt den alten Gaul mit ihrer Perücke und den abgelegten Kostümteilen, dafür zieht sie ihm Geld aus dem Hinterteil. Das sind, folgt man Ernst Kantorowicz und seinem berühmten Text „Die zwei Körper des Königs“, die zwei Körper der Kaiserin: der sterbliche und mythische, unsterbliche Leib. Auf der Bühne befreit sich Reinspergers Sisi als vergänglicher Mensch von der gottgleichen Institution, indem sie die Körper voneinander trennt und ausstellt.

Wie sehr Sisi als Projektionsfläche herhalten musste und noch immer muss, verdeutlicht das Bühnenbild. Die von Jessica Rockstroh entworfenen golden und marmorgrün schimmernden Spiegelwände vor dazu passender Tapete lassen an einen „Goldenen Käfig“ denken. Und deuten zugleich an, wie sehr die Kaiserin den Blicken ihrer Mitwelt ausgesetzt war, was bei Fallwickl in eine feministische Standpunktepistemologie übersetzt wird: „Der Körper einer Frau ist der Besitz der gesamten Gesellschaft. Wenn eine Frau sich im Spiegel anschaut, schaut sie sich mit dem Blick der gesamten Gesellschaft an.“

Sisi wird zur Vorläuferin eines spätmodernen Selbstoptimierungsdiskurses, gefangen im Panoptikum sozialer Erwartungen und Zwänge von Abmagerungskuren bis Schönheitswahn. Als Sisi 1898 von einem Anarchisten erstochen wird, soll ihr Körper von Hunger gezeichnet gewesen sein.

Bei Fallwickl erscheint Sisi als Fallbeispiel einer zeitgenössischen feministischen Kritik, wie sie sich auch auf Instagram & Co. findet: „Wenn Frauen permanent Krieg gegen ihren eigenen Körper führen, haben sie keine Zeit, eine Revolution anzuzetteln. Wenn Frauen permanent Hunger haben, haben sie keine Kraft, eine Revolution anzuzetteln.“

Zugleich distanziert sich die 1983 geborene Autorin von einer feministischen Idealisierung. „Die Ikonisierung der Kaiserin ist ein permanentes Zuscheißen dieser Figur zu einem einzigen Zweck: Profit. Damit die Cash Cow Sisi auch im 21. Jahrhundert Gewinn abwirft, muss sie als feministische Gallionsfigur gelten, als Vorreiterin der Frauenbewegung“, heißt es bei Fallwickl.

Sie verschweigt die dunklen Seiten nicht, wie die luxuriösen Reisen für Millionen, während das Volk darbte. Die mit 16 Jahren zwangsverheiratete Tochter. Oder die Ausfälle und Tätlichkeiten gegen Bedienstete, die in Hofdamenkostümen von der Live-Band verkörpert werden (Elena „Leni“ Ulrich und Lilli Kaufmann mit punkiger Schrammelgitarre und Schlagzeug, früher bei „Bipolar Feminin“, heute als „Jopa“).

Fallwickls in zehn Exerzierübungen unterteiltem Monolog gelingt es, die Widersprüche der Sisi-Figur mit dem Kritikarsenal des heutigen Feminismus fassbar zu machen. Dabei kommt zum Tragen, was heute intersektional genannt wird. Obwohl Sisi fraglos benachteiligt wird, weil sie eine Frau ist, kann sie aufgrund ihrer sozialen Lage als Kaiserin – sehr viel mehr herrschende Klasse geht ja kaum – ihre geschlechtsspezifische Benachteiligung durch Privilegien kompensieren.

Fallwickl ordnet das geschichtlich ein: Nachdem es 1848 zu Hungeraufständen und Revolutionen kam, wurde die Monarchie aus Wien verjagt, es sollte Verfassung und Parlament geben. Doch über die Leichen der „Praterschlacht“ hinweg bestieg Sisis späterer Mann Franz Joseph den Thron. Es war das Comeback der Habsburger, das mit einer Niederlage der Demokratie und der frühen Frauenbewegung – namentlich Karoline von Perin – einherging.

Und Sisi war das prunkvolle Aushängeschild einer restaurativen Epoche, die ihre Grundfesten in einer niedergeschlagenen Revolution und der Ablehnung der Verfassung hatte. Was Sisi symbolisch gewährt war – der Widerstand gegen das Höfische –, wurde in echt verwehrt.

Weil an einem solchen Abend zwar vieles, aber auch nicht alles gelingen kann, hat Fallwickl ihrem Text noch drei Einschübe verpasst, die bis in die Gegenwart reichen. Mit einem Sprung landet man von Sisi bei Imane Khelif, der algerischen Boxerin mit erhöhten Testosteronwerten, Rosa Parks, der berühmten schwarzen Bürgerrechtlerin aus den USA, und Gisèle Pelicot, die in Avignon einen aufsehenerregenden Prozess gegen ihren Mann geführt hat, der sie über Jahre vergewaltigen hat lassen.

Das soll alles mit Sisi zu tun haben, hängt jedoch arg schief. Dass Elisabeth, die Tochter des Herzogs von Bayern, als Jugendliche verheiratet wurde – oder nach Fallwickl zwangsverheiratet –, lässt sich kaum damit vergleichen, über zehn Jahre betäubt und vergewaltigt worden zu sein. Weder zum Verständnis der Sisi-Figur noch der Gegenwart trägt das irgendetwas bei. Diese effekthascherischen Aktualitätssignale sind zum Ärgern und Fremdschämen.

Zudem die Botschaft des Abends auch ohne überflüssige Querverweise ankommt. Am Ende tanzt Reinsperger im leichten Kleid zu Punk, über ihr schwebt als schlecht gealterter Mythos der alte Sisi-Gaul: ein bekanntes Bild der Befreiung. „Wenn eine Frau die Wahrheit sagt, erschafft sie einen Raum, in dem andere sicher sein können“, lautet der emotionale Schlussappell.

Mit der Wahrheit über Sisi soll es nun wohl anfangen, so darf man vermuten. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern ein unbeschreiblicher Jubel. Stehender Applaus, der kaum enden will. Fallwickl im „Rebel“-Shirt liegt sich mit Reinsperger und Wartenberg in den Armen, auch sie tanzen kurz. Man muss nicht in die Zukunft schauen können, um diesem Abend zu bescheinigen, dass er noch lange einen festen Platz im Kulturprogramm vieler Wien-Besucher und Sisi-Fans haben wird.

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