Was ist passiert? Der Historiker Thomas Gruber stiess bei Archivarbeiten zufällig auf Siegfried Unselds Partei-Mitgliedskarte. Das berichtet die «ZEIT». Daraus geht hervor, dass Unseld 1942, direkt nach seinem Notabitur, die Mitgliedschaft beantragte. Unseld war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Kurz darauf wurde er in die Wehrmacht eingezogen. Dass der spätere Suhrkamp-Chef als junger Mann auf der Krim kämpfte, war bekannt. Nicht aber, dass er auch Mitglied der NSDAP war.

Ist der Fund eine Überraschung? Man wusste, dass Unselds Vater ein strammer Nationalsozialist war. Insofern kommt die Partei-Mitgliedschaft des Sohnes nicht aus heiterem Himmel. Siegfried Unseld war als Jugendlicher «Fähnleinführer» bei der Hitlerjugend. Später übte er klare Kritik am «Dritten Reich». Wenn er über die Zeit des Nationalsozialismus sprach, erzählte er aber vor allem, wie er 1944 stundenlang durch das schwarze Meer schwamm, um sich vor einem russischen Angriff zu retten. Damit schaffte er eine Art Mythos, während er seine Parteizugehörigkeit verschwieg.

Legende: Der legendäre Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld hat die NSDAP-Parteimitgliedschaft sein ganzes Leben lang öffentlich verschwiegen. Getty Images/kpa/United Archives

Ist Siegfried Unseld im Literaturbetrieb damit ein Einzelfall? Nein. Für grosse Aufregung sorgte etwa Günter Grass' Mitgliedschaft in der Waffen-SS, die der Nobelpreisträger 2006 offenbarte. Auch von der NSDAP-Mitgliedschaft der Autoren Martin Walser oder Siegfried Lenz oder des Kabarettisten Dieter Hildebrandt erfuhr die Öffentlichkeit erst nach Jahrzehnten. Alle beteuerten aber, von der Mitgliedschaft nichts gewusst zu haben. Tatsächlich kam es vor, dass ganze Schulklassen der Nazipartei zugeführt wurden. Unselds Partei-Eintritt sei laut dem Historiker Thomas Gruber aber ein bewusster Entscheid gewesen.

Sorgt der Fall Unseld deswegen für besondere Aufmerksamkeit? Wir kennen Siegfried Unselds genaue Beweggründe nicht, und wir wissen kaum etwas über die Gesinnung des damals 17-Jährigen. Das mag zynisch klingen, aber zur NSDAP gehörten damals viele. Das allein ist keine Sensation. Dass diese Meldung für solches Aufsehen sorgt, liegt daran, dass Siegfried Unseld über Jahrzehnte eine Leuchtfigur im Literaturbetrieb war. Ab 1959 machte er den Suhrkamp-Verlag zu einem Flaggschiff der kritischen Intelligenzia. Als Verleger engagierte er sich auch für jüdische Emigranten wie Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno. Die Gewissheit, dass Unseld in der NSDAP war, kommt in gewisser Weise einer Entzauberung gleich.

Heisst das, Unseld wurde überhöht? Unselds «Suhrkamp-Kultur» stand nicht unbegründet für ein geläutertes Deutschland. Mitte des 20. Jahrhunderts hatte die Öffentlichkeit darum wenig Interesse daran, eine Person wie Unseld in Frage zu stellen. Dass er selbst nie über seine NSDAP-Vergangenheit sprach, mag schlicht daran gelegen haben, dass er selten danach gefragt wurde.

Was bedeuten diese Erkenntnisse für den Suhrkamp-Verlag? Suhrkamp wird kaum einen grossen Imageschaden davontragen. Auch wenn sich der Verlag noch immer auf den Patron beruft, hat sich Suhrkamp seit Unselds Tod 2002 stark weiterentwickelt. Es ist aber bemerkenswert, dass sich weder der Verlag noch unabhängige Biografen kritischer mit Unselds Biografie vor seiner verlegerischen Arbeit auseinandergesetzt haben. Das wir nun wissen, dass Unseld bei der NSDAP war, schmälert nicht seine Leistungen als Verleger. Der Fall zeigt aber, wie schwer es der Gesellschaft fällt, sich mit Vorbildfiguren kritisch auseinanderzusetzen.

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