Eine Brise Anti-Zeitgeist kann nie schaden. Und besonders nicht, wenn sie so warm, sommerlich und entspannt eingeflogen kommt wie die Lebensregeln des deutschen Autors Alexander Oetker. Der viel in der Welt herum gekommene Journalist geht in seinem Buch „Es kann so schön sein, das Leben“ der guten Laune auf den Grund, der er in südlichen Gefilden stets begegnet. Und fragt sich: Können wir das Dolce-Vita-Prinzip auf unseren nassen, grauen Deutschland-Alltag übertragen? Oder ist es unweigerlich ans mediterrane Klima geknüpft, gar an südländische Gene?

Zehn simple Imperative versprechen, dem Leser das Leben zu versüßen. Bisweilen erinnern Oetkers Methoden an Binsenweisheiten, gleichzeitig dürften sie aufgrund ihrer unverhohlen ausgestellten Retro-Haltung polarisieren. Kurz nachdem Bestseller-Ernährungsexperte Bas Kast öffentlich und in Buchform dem Alkohol abschwor und die Deutsche Gesellschaft für Ernährung die Empfehlung auf null Schlucke zurücksetzte, ist der Tipp, es sich öfter abends mit einem Chianti gemütlich zu machen, um „gesund und glücklich zu werden“ – so heißt es im unbescheidenen Untertitel – auf alle Fälle eine Setzung.

„Trinken Sie jeden Tag ein Glas Rotwein oder auch zwei“, empfiehlt der selbst ernannte Genuss-Profi. Bier und Schnaps seien hingegen zu vermeiden. Oetker argumentiert jedoch nicht, dass die Deutschen oft Bier trinken und oft traurig sind und folglich Bier traurig mache, sondern: Rotwein enthält Polyphenole und Antioxidantien und verringert somit das Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko.

Auch einen weiteren Schauplatz gegenwärtiger Gesundheits-Debatten umschifft der Autor nicht, sondern steuert geradewegs auf ihn zu: den Sport. Unverständnis überkommt Oetker angesichts des Trends, sich um der Bewegung willen mit Bewegung zu stressen, statt die Bewegung einfach als notwendige Fortbewegungsart zu nutzen: „Mir ist kein Hundertjähriger untergekommen, der viel Zeit in einem Fitnessstudio verbracht hätte.“ Empfehlenswert hingegen sei der Gang zu Fuß, draußen an der frischen Luft, am besten dort, wo es steil und hügelig zugehe.

Denn was verbindet viele sogenannte „Blue Zones“, also bestimmte Gebiete mit überdurchschnittlich vielen Hundertjährigen? Oetker verweist nicht nur auf den auffälligen Rotweinkonsum, sondern auch auf die bergigen Wege, die die Menschen auf Sardinien oder Ikaria oft bis ins hohe Alter hochkraxelten.

„Niemals wären sie auf die Idee gekommen, Sport zu treiben, etwa durch die karge Landschaft zu joggen oder im Schlafzimmer Liegestütze zu machen. Ihren Sport hatten sie ganz automatisch, ohne dass sie die Bewegung so nannten. Es war einfach ihre natürliche Fortbewegung.“ Einen praktischen Tipp, wie man das Flanier-Prinzip in seinen Berufsalltag integrieren kann, liefert er auch: Video-Konferenzen durch Telefontermine ersetzen, da man sich bei diesen im Freien bewegen kann.

Loblied auf die Liebe

Auch Oetkers Plädoyer für den Sex, den Flirt und die romantische Liebe – bis ins hohe Alter hinein – könnte man in Zeiten von MeToo und der großen Abstinenz-Welle als anachronistische Volte empfinden. Sichtlich begeistert von der offenen Art des Südens, wo hemmungslos auf der Straße geflirtet und eine sommerliche Metro-Fahrt in Paris für Männer mit Ehering zur „Zumutung“ werde (während die Familien aufs Land fahren, eröffnen die zum Arbeiten in der Stadt Zurückgebliebenen die Affären-Hochsaison), erklärt der Hobby-Südländer: „In Paris liegt eben die Liebe in der Luft. Es ist in Frankreich auch ganz alltäglich, eine Affäre zu haben.“ Begrüßenswert sogar, denn: „Die Liebe macht alles einfacher, sonniger, leichter. Wir sollten uns mehr Mühe geben, verliebt zu sein.“

Überhaupt kristallisiert sich als gar nicht so geheime Zutat des südeuropäischen Erfolgsrezepts die Gemeinschaft heraus: Zusammenhalt, Solidarität, Gesellschaft. Alte Menschen weiß die Dolce Vita genauso ins Geschehen zu integrieren wie Kinder. Wer gebrechlich ist, werde nicht ins Altenheim oder die Innenräume abgeschoben, sondern partizipiere weiter am Gemeinleben. Im Gegenteil steigere das zunehmende Alter sogar den Respekt, den die Jüngeren einem entgegenbrächten.

Und auch Kinder gingen alleine auf den Markt, bestellten im Restaurant normale Gerichte und würden überhaupt als „eigenständige Menschen betrachtet und auch so behandelt“. Fremde Erwachsene sprächen Kinder auf der Straße an und unterhielten sich mit ihnen wie mit Erwachsenen, nicht in Kindersprache und nicht über Kinderthemen.

Generell freue man sich im Zug über einsteigende Kinder, statt genervt das Abteil zu wechseln. Die Weisheit, dass es ein ganzes Dorf brauche, um ein Kind großzuziehen, sei im Süden gelebte Realität. Zwar fehle dort der Sinn für Privatsphäre – „Im Süden ist das Private immer auch eine Angelegenheit des ganzen Dorfes“ –, dafür begünstige das Bewusstsein, dass man nicht alleine ist und sich immer auf die Hilfe der anderen verlassen könne, den guten Schlaf.

Zusammen statt alleine

Konsequenterweise dienen viele der vorgestellten Leitsätze der Förderung von Gemeinschaft: nicht mehr als eine Tätigkeit auf einmal machen (und dadurch präsent und aufmerksam für die Umwelt sein), gut und in Gesellschaft essen (Olivenöl, Linsen und Bohnen, frisches Gemüse), mit Gott sprechen, großzügig sein, viel hinausgehen, viel helfen, viel lieben. Den Cappuccino nie im Stehen oder Gehen trinken, sondern Zeit mitbringen und sich hinsetzen. Deutsche würden durchschnittlich nur anderthalben Stunden im Restaurant verbringen, Italiener und Franzosen hingegen mindestens doppelt so lang.

Oetkers küchensoziologischen Vergleiche ergeben ein klischeehaftes, aber darum nicht unbedingt falsches Bild des Deutschen, der Restaurant-Rechnungen auf den Cent genau aufteilt, während der Spanier fünf gerade sein lässt. Der Deutsche, der hart zu sich selbst ist, und daher auch zu anderen. Der den Müll korrekt trennt, Fremde misstrauisch beäugt und penibel auf seine Privatsphäre bedacht ist. Und der sich vor allem ständig beschwert, was der fröhlichen Stimmung erst recht abträglich ist: „Wir sollten nicht immer nur mit Zynismus auf die Misere unseres Landes schauen und über langsames Internet, unpünktliche Züge und eine titellose Nationalmannschaft schimpfen“, rät Oetker und man kann sich vorstellen, wie er dabei tief einatmet und in eine Orange beißt.

Ist Dolce Vita also nur ein anderer Begriff für Work-Life-Balance? Nicht ganz, insofern die hier vorgeschlagene Laissez-faire-Mentalität einem eher sinnlich-schwelgerischen Hedonismus folgt, der den durchgetakteten Wellness-Programmen einer selbst in Entspannungsfragen auf Effizienz getrimmten Gegenwart diametral entgegensteht. Wie aber passt die klassisch deutsche Sehnsucht nach dem Land, wo die Zitronen blühn, mit den gleichzeitigen Sorgen über Leistungsverlust und Wirtschaftsschwund zusammen? Eine Antwort darauf hat Oetker – wie auch auf viele andere sich aufdrängende Fragen – nicht. Das wiederum passt ganz schön zu seinem Programm, bloß nicht zu viel zu arbeiten.

Zwar habe er vierzig Bücher in acht Jahren geschrieben, weshalb von Faulheit keine Rede sein könne, doch nie habe er danach gestrebt, der Letzte im Büro oder an der Hotelbar zu sein. Das aus ein paar netten Anekdoten, Tipps, Gedanken, Kochrezepten, Zitaten und einem Dolce-Vita-Alphabet zusammengeschusterte Büchlein zeugt von dem Prinzip, das Nötige „schnell und gut hinter sich zu bringen“, um danach mit Freunden zu essen oder die Landschaft zu genießen. Der beste und letzte Tipp allerdings soll Ihnen an dieser Stelle auch nicht vorenthalten werden. Er heißt: „Zieh in den Süden“.

Alexander Oetker: Es kann so schön sein, das Leben. Wie wir mit dem Dolce-Vita-Prinzip gesund und glücklich werden. Hoffmann und Campe, 240 Seiten, 22 Euro.

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