Unter den vielen Pralinenschachteln, die „Tatort“-Kommissariate ja eigentlich sind, ist das von Münster garantiert das mit den buntesten, aber nicht unbedingt immer wohlschmeckendsten Pralinen. Man weiß – wie bei Bertie Botts Bohnen, den Wunderüberraschungsbonbons bei Harry Potter – nie vorher, was einen da des Sonntagabends unter den Wiedertäuferkäfigen wohl kredenzt werden wird.

Am besten sind der Kommissar Frank Thiel, der St.-Pauli-Prolet, und der Pathologe Karl-Friedrich Boerne, der großbürgerliche Wagner-Snob, immer dann, wenn sie mit dem sich gegenseitig entlarvenden Jokus, den Axel Prahl und Jan Josef Liefers halt immer treiben müssen, nicht allein gelassen werden. Wenn’s da eine Geschichte, wenn’s ein Thema gibt, an dessen blutroten Faden sie die jeweils neuen Variationen ihrer inzwischen altbekannten Scherze aufhängen können.

Im Fall von „Fiderallala“ – das ist jetzt die 47. Ermittlung, auf die Boerne und Thiel geschickt werden – sind es Filmrisse aller Arten und die Mechanik, wie unsere Erinnerung funktioniert. Oder eben nicht. Es werden im Münsteraner Mörderlabyrinth diesmal sogar noch ein bis zwei Nebenstrecken zusätzlich eingebaut, mit deren Hilfe die sonst gern oberflächliche Scherzkekskiste aus der tiefschwarzen Provinz eine sogar ernsthaft emotionale Ebene bekommt.

Mit einem Scherz geht es sogar los. Thiel freut sich auf einen seiner durchschnittlich freudvollen Abende mit heißer Tiefkühlpizza, Bier und Pauli-Shirt. Da gibt es eine Leiche an der Uni. Boerne sagt seinem Nachbarn Bescheid. Und hat sogar einen herrlichen Jaguar (nebenbei: gibt es eigentlich ein Kfz-Museum in Münster, in dem man die ganzen Karren besichtigen und eventuell sogar fahren kann, mit denen Professor Boerne unterwegs ist?), mit dem er Thiel zum Tatort fährt.

Da liegt einer mit einem Hackebeil im Rücken über einer Toilette. Der ist aber gar nicht tot. Der liegt da, weil Boerne Thiel mal aus seiner Butze holen und mit ihm und seinen Studenten mal Party machen wollte. Die vermeintliche Leiche war sozusagen die Einladung für seinen Lieblingskommissar.

Echt Fründe ston zesamme

Boerne und Thiel – die mögen sich nämlich wirklich. Sind echte Kumpel. Wohnen nicht nur Wand an Wand in Boernes Mietshaus, es passt auch kein Blatt Papier zwischen sie. Echte Fründe, würde der Kölner sie nennen. Dass sie sich bloß vor Jahren mal für vielleicht zehn Minuten und nur unter Alkoholeinfluss geduzt haben – geschenkt. Was Regine Bielefeldt in ihrem von Isa Prahl elegant umgesetzten, finsteren Drehbuch zu „Fiderallala“ mit ihnen anstellt, führt die beiden auf den wahren Grund ihrer Beziehung und treibt ihnen und uns die Tränen der Rührung in die Augen.

Womit wir zum ersten jener Filmrisse kommen, von denen „Fiderallala“ so voll ist, dass es für drei Vorabendkrimis reichen würde. Während sich nämlich Thiel in der zartneontürkis schwummernden Mediziner-Disco zwischen Boernes Studis zu den „West End Girls“ der Pet Shop Boys am Bier festhält, schüttet sich Boerne mit Reagenzgläsern voller THC-Kaltgetränken derart zu, dass er völlig die Kontrolle verliert. Was ganz wunderbar anzuschauen ist, weil Liefers einen Höllenspaß an der Boerne-Eskalation hat. Irgendwann singt er die „Vogelhochzeit“ und Mozarts Arie der Königin der Nacht, wie sie die britische Extremsopranistin Florence Foster Jenkins nicht schräger hätte singen können.

Wer, nachdem Boerne vom fürsorglich amüsierten Thiel nach Mitternacht im Halbkoma nach Hause expediert wurde, glaubt, mit dem Gelächter und der sanften Selbstdemontage ginge es anschließen einfach so weiter, hat schon vorher nicht ordentlich hingeschaut. Zielgerichtet waren beinahe sämtliche später Beteiligte teilweise aus merkwürdigerweise auf der Uni aufgestellten Zelten in die Disse und aneinander vorbei gestürzt, hatten gestutzt, sich Blicke zugeworfen.

Am Morgen danach sind bei Boerne anders als bei Thiel sämtliche Giftstoffe der Nacht rückstandsfrei verbrannt. Wofür man den Barkeeper zwar nicht mehr haftbar machen kann, weil der tot zwischen den Mülltonnen liegt, aber gern würde, weil er anscheinend die gesamte Festgemeinde und einen Teil von Rest-Münster mit irgendwas vergiftet hat, das beiden erhebliche Teile des Erinnerungsvermögens geraubt hat. „Fiderallala“ entwickelt sich jedenfalls in rasanter Geschwindigkeit zum bisher ersten „Tatort“ in der Geschichte, der mindestens doppelt so viele falsche Geständnisse wie Tote aufweisen kann.

Dieser Schachteltraum der Selbstbezichtigungen ist aber nur einer von vielen in der aktuellen Münsteraner Schokoladenschachtel. Sehr sorgfältig und fein verklöppeln Bielefeldt und Prahl die sich zerspleißenden Freundschaftsfäden von Boerne und Thiel (die darin gipfeln, dass Boerne Thiels Briefkasten in die Luft jagt), Geschichten über die Wohnungsnot von Münster, die zu absurdem Verhalten führt, mit Tiefenbohrungen in die Manipulierbarkeit des menschlichen Gehirns.

Man möchte den Verantwortlichen der folgenden Boerne-Thiel-Ermittlungen geradezu leichten THC-Konsum nahelegen. Zur Steigerung der Fallhöhe gewissermaßen. Derart ärgerrückstandsfrei verbrannt wie der rauschhafte „Fiderallala“ ist nämlich schon lange kein Münsteraner „Tatort“ mehr. Soweit wir uns erinnern können.

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