Die Bienen sind die Guten, Ameisen die Bösen. Menschen lesen Bücher über Bienen und besuchen Imkerkurse, adoptieren Schwärme und lassen die Völker durch die Städte fliegen, um die Welt zu retten. Ameisen sorgen für Ärger. Sie dringen in Häuser ein und untergraben Gärten, Menschen haben Mittel gegen sie als Schädlinge und Lästlinge. Es gibt auch Bücher über Ameisen und sogenannte Formicarien aus Glas, um sie als Haustiere zu halten. Aber das ist nichts für das soziale Ansehen wie eine Imkerbibel im Regal oder ein Bienenstock auf dem Balkon. Im Gegenteil.

Der emeritierte Zoologe Jürgen Tautz aus Würzburg wirbt nun für eine gewisse Gleichstellung der populärsten staatenbildenden Hautflügler als Nützlinge und Günstlinge. In „Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“ wendet er sich weniger an Fachkollegen und Formicaristen, also Ameisenliebhaber, als an alle.

„Das Leben der Waldameisen verläuft weitgehend unauffällig“, ist ein Satz, den niemand sonst, der Ameisen gemeinsam mit den Menschen für die Herrscher dieser Welt hält, schreiben würde. Sie lebten bereits zur Zeit der Dinosaurier, und es gibt Hinweise, dass Ameisen den Menschen überleben könnten.

Tautz scheut sich auch nicht, die Tiere zu vermenschlichen, wenn es der Anschaulichkeit dient. Da werden Massenhochzeiten gefeiert, Königinnen werden zu lebenden Samenbanken, Kinderstuben werden eingerichtet. Eine arbeitsteilige Gemeinschaft sorgt im Innen- und im Außendienst fürs Volk, legt Straßen an und regelt den Verkehr mit Pheromonen und einem intelligenten, inneren Navigationssystem. In jedem Nest, das eine Kolonie im Wald errichtet, sieht Tautz „Kunst am Bau“, tierische Hochkulturen. Blattläuse werden gehütet und gemolken, Eindringlinge, wenn sie etwas Brauchbares zu bieten haben, integriert. Die Bilder dazu stammen vom Tierfotografen Ingo Arndt. Facettenaugen schauen einen an, als wüssten sie über den Menschen mehr, als er über die Ameise zu wissen glaubt.

Für Edward O. Wilson, den berühmtesten aller Ameisenforscher und Nestor der Soziobiologie, stand die Ameise dem Menschen immer näher als der Affe – weil auch sie sich als Geschöpf im großen Ganzen sehen könne. Wilson wies schon in den 1970er-Jahren auf eine vergleichbare Evolution von Wirbeltieren und Insekten zu gehobenen Gesellschaften hin, zu den „eusozialen“ Lebensformen.

Die Eusozialität geht über Herden oder Rudel, Schwärme oder Kolonien hinaus. Es geht um das Zusammenleben mehrerer Generationen und spezialisierter Kasten, die sich um den Staat verdient machen. Bei Ameisen ist Eusozialität keine Erscheinung einzelner herausragender Arten mit spektakulären Nestbauten wie bei den Wildbienen, sondern die Regel. Die Linie der eusozialen Säugetiere teilt sich zu den Nackt- und Graumullen und zu den einzigen Primaten, die sich mit den Ameisen in ihrer Lebensweise messen können: zu den Menschen.

Edward O. Wilson schreibt in seiner Menschheitsgeschichte „Die soziale Eroberung der Welt“: „Die Menschheit entwickelte sich als biologische Art in einer biologischen Welt, nicht mehr und nicht weniger als die sozialen Insekten.“ Oder, wie es schon bei Darwin hieß: „So betrachtet, ist das Gehirn einer Ameise das wunderbarste Substanzatom der Welt, vielleicht noch wunderbarer als das Gehirn des Menschen.“ Eine Hufeisentheorie der Evolution, ein Stammbaum mit zwei Kronen.

Der Geringschätzung der Ameise im Alltag stand allerdings immer auch das Staunen über sie und eine unverhohlene Bewunderung entgegen. „Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weisheit an und lerne!“, riet bereits die Bibel. In Fabeln, von Äsop bis Disney, sind Ameisen ausnahmslos die Guten. Aristoteles empfahl der menschlichen Gesellschaft, sich am Staat der Ameisen zu orientieren.

Aufgewühlt vom Ersten Weltkrieg schrieb Auguste Forel, ein Schweizer Psychoanalytiker, in seinem Manifest „Die Welt der Ameisen“: „Warum lebten die Ameisen der Terrasse – meine speziellen Freunde – in völliger Eintracht miteinander? Warum halfen sie sich gegenseitig und fraßen friedlich vom Honigbrot, das ich ihnen reichte, während sie sich gleichzeitig mit den Ameisen fremder Nester heftig stritten?“

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs schrieb der amerikanische Philosophieprofessor Caryl Parker Haskins in „Von Ameisen und Menschen“ über den totalitären Staat im eigenen Vorgarten und drüben in Europa, über Kommunismus und Faschismus und die Grenzen demokratischer Ideale.

„Wundert man sich, dass sich das Wort ‚emsig‘ von der alten Bezeichnung ‚Emse‘ für Ameise ableitet? Wohl kaum!“, sagt Jürgen Tautz. Illustriert wird das mit Myriaden arbeitsamer, umsichtiger, altruistischer, opferbereiter, übermenschlich wirkender Bioroboter, die sie dann nur wieder sind. Trotz „Mülldienst“ für das „Netzwerk der Natur“.

So wird die Geschichte der Natur der Ameisen eins mit der Kultur der Menschen. Was die Aufklärung getrennt hat, wächst wieder zusammen, indem Text und Bild darüber aufklären, was eine Ameise zur Ameise macht und was, trotz ihrer Allgegenwart, nicht unbedingt zur Volks- und Allgemeinbildung gehört.

Weibliche Tiere, die zur Königin heranwachsen, pflanzen sich mit den wenigen armseligen Männchen fort, deren gesamter Lebenssinn sich mit dem Liebesakt auch schon erschöpft. Ihre Millionen Nachkommen sind überwiegend unfruchtbare Töchter, die alles für ihre Königin und ihren Staat tun. Ein naturgegebenes Matriarchat. Die „Superheldinnen“ sind keine gegenderten Insekten, sondern ein Triumph der Abstammungsgenetik. Eine Ameise ist nichts, der Superorganismus aus allen weiblichen Ameisen der Kolonie ist alles, das soziale Wesen.

In unseren Wäldern ist die Rote Waldameise zu finden (Formica rufa), die zwischen dem 40. Breitengrad (Madrid) und fast bis zum nördlichen Polarkreis beachtliche Hügel baut. Die Kahlrückige Waldameise (Formica polyctena) ist die zweite wichtige Art; beide sehen sich sehr ähnlich. Anders als die Rote Waldameise bringt die Kahlrückige polygyne Kolonien hervor, Nester mit mehreren Königinnen, deren Hügel ganze Wälder mit Schwestern bevölkern können. Alle Ameisen der Erde, rechnet Tautz vor, ließen sich in ihrer schieren Biomasse mit der Menschheit aufwiegen. Wie Menschen sind auch Ameisen in allen Klimazonen heimisch.

Aber auch die Ameise allein wird ausführlich gewürdigt: „Eine zehn Milligramm leichte Waldameise kann das Zehnfache ihres Körpergewichts frei in den Mandibeln tragen und das Neunzehnfache über einen glatten Untergrund ziehen. Zum Vergleich: Ein 80 Kilogramm schwerer Mensch müsste, um Gleiches zu leisten, ein Gewicht von nahezu einer Tonne, also in etwa einen Kleinwagen, über seinen Kopf heben – ein Ding der Unmöglichkeit“, schreibt Tautz.

„Bei Temperaturen zwischen 20 und 30 Grad Celsius schaffen die Tiere 26 Körperlängen pro Sekunde. Umgerechnet auf einen Menschen wären das unglaubliche 140 Stundenkilometer“, schreibt Arndt über die Erschwernisse der Ameisenfotografie.

Heute kann eine Waldameisenkolonie ein ganzes Autobahnkreuzbauvorhaben zum Erliegen bringen, das verfestigt einerseits den Ruf der Ameise als Störenfried. Andererseits wird ihre Rolle im empfindlichen System der Landschaften gewürdigt, wenn die Nester fachgerecht von Ameisenschutzwarten umgesiedelt werden.

„Waldameisenkolonien sind ökologische ‚Multitasker‘“, erklärt Ingo Arndt. Er lobt sie als „Gesundheitspolizei“, für ihren „Mülldienst“ und für ihre Unverzichtbarkeit als Fußtruppen gegen das Artensterben und den Klimawandel. Für die Menschen sind Bienen die Ablasstiere des Anthropozäns. Ameisen tun, was sie tun müssen, und machen die Arbeit.

Jürgen Tautz, Ingo Arndt: „Waldameisen – Superheldinnen auf sechs Beinen“ (Knesebeck, 176 S., 40 €).

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