Als „Falken“ kennt ihn alle Welt. Allerdings rief Yaşar Kemal seinen Helden – Gott weiß keine Taube – meist „Ince Memed“, den „schmächtigen Memed“. Überhaupt täuscht der Raubvogelname: Als Memeds Blick in einem Nomadenzelt auf mit schnäbelnden Liebesvögeln bestickten Stoff fällt, kommen ihm die Tränen und er wähnt sich im Paradies. Wie Memed hierherkam, die Geschichte also, die 1955 Kemals Erzählerruhm begründete, ist kaum paradiesisch.

Ein früher Ausbruchsversuch aus dem ärmlichen Dorf, das von einem „gottlosen“ und sadistischen Großgrundbesitzer terrorisiert wird, ist Memed schon missglückt, als er sich mit Hace in ein neues Leben aufmacht. Doch die Geliebte seit Kindheitstagen ist dem Neffen Abdi Agas versprochen. Incipit tragoedia: Memed tötet den Nebenbuhler. Zurück ins Dorf verbracht, fällt das Mädchen einem Komplott zum Opfer. Und Memed schließt sich Räubern an, deren Rohheit ihm aber fremd bleibt. Als Rächer Haces wird der Schmächtige schließlich zum Idol der Bauern in der Ebene zwischen Taurusgebirge und Golf von Iskenderun, wo auch Hermite liegt: Yaşar Kemals Geburtsort.

Abenteuerlich auch dessen Leben: Sohn kurdischer Flüchtlinge aus dem russisch besetzten Ostanatolien, verlor der um 1923 Geborene früh den Vater – ermordet vom Stiefbruder, Yaşar war vier oder fünf. Begabt konnte er die Schule besuchen, profitierte davon auch in einem seiner Brotberufe. Er verfasste Briefe für illiterate Bauern. Prophetisch irgendwie: Kemal sei „ein Erzähler in der ältesten Tradition, in der Tradition Homers, ein Sprecher für ein Volk, das keine Stimme hatte“, schrieb der Filmregisseur Elia Kazan einmal.

Der Schriftsteller Kemal, der zwischen 1951 und 1963 als Journalist für die Tageszeitung „Cumhuriyet“ tätig war, starb 2015 91-jährig in Istanbul, nach einem langen Leben, das ihn wegen seines politischen Engagements (erst für den Marxismus, dann gegen die Verfolgung der Kurden) immer wieder mit dem Staat in Konflikt gebracht hatte, ins Gefängnis und zeitweise ins schwedische Exil.

Politik bedrohe die Kunst, glaubte der Schöpfer unseres anatolischen Robin Hoods übrigens, obwohl sein Buch in Oppositionskreisen die Moral steigerte. Zola habe er immer bewundert, aber dessen Romane nie gemocht, zitierte ihn der „Guardian“. Aber Stendhal! Vor dem Schreiben lese er, Kemal, stets „Die Kartause von Parma“ oder „Rot und Schwarz“. Denn bei Stendhal finde man ein Verständnis für die Sage: „Stendhal hat einmal gesagt: ‚Ich schreibe wie ein Straßenschreiber.‘

Ein Erzähler wie Homer

„Homer erzählt, als säße er in einem Straßencafé“, bekannte Kemal 2008 im „Spiegel“. Und kam da auch auf Hermite zu sprechen, seinen Geburtsort, gelegen bei den Ruinen des römischen Anazarbos: „Als Kind spielte ich in den Gassen dieser Stadt. Aus ihr stammte der berühmte Arzt Dioskurides, hier ist Cicero eine Zeit lang Präfekt gewesen. 50 Jahre vor meiner Geburt wurden die Bewohner meines Dorfs nach der Niederschlagung eines Aufstands hier angesiedelt. Während meiner Kindheit sangen sie noch immer Lieder dieses Aufstands.“

Früh probte Kemal erfolgreich den Aufstand. Im Zuge dessen, was die Armenier „Aghet“ nennen, des Völkermords mit 800.000 bis 1,5 Millionen Toten, war 1915 auch die Kirche Surb Chatsch auf der Insel Akdamar im Vansee geplündert worden – das Kloster zerstört, die Mönche ermordet.

Was übrig blieb, wollte die türkische Regierung 1951 einreißen. Wäre nicht ein Journalist, der gerade seine erste Erzählung veröffentlicht hatte, vor Ort gewesen. Und hätte der nicht alles daran gesetzt, die Zerstörung des Kulturdenkmals zu verhindern. Ob Kemal an die Ruinen zu Hause dachte? Wer weiß. Es sollte noch über 50 Jahre bis zur Restauration der Heiligkreuzkirche dauern.

Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.

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