Das Konzert im Carlswerk Victoria in Köln ist ausverkauft, von Lampenfieber ist VNV-Nation-Frontmann Ronan Harris backstage aber nichts anzumerken. Er nimmt sich viel Zeit für unser Interview und spielt sogar das noch unveröffentlichte Album "Construct" vor. Dabei entstehen spontan Oberkategorien wie "Nicht kleckern, sondern klotzen", "Wenn schon, denn schon" oder "Mascara-Killer" für die neuen Songs. Damit dürfte eine gewisse Vorfreude bei den Fans geweckt sein, aber Ronan erklärt natürlich auch gerne noch einmal ausführlich, was sie von "Construct" erwarten können, wieso dessen dunkler Zwilling "Destruct" noch auf sich warten lässt und mit wem er am liebsten ein Duett aufnehmen würde.
ntv.de: Ronan, worauf dürfen sich die Fans bei "Construct" freuen?
Ronan Harris: Die Texte des Albums sind viel persönlicher als das, was ich bislang geschrieben habe. Es ist die Zusammenführung von so vielen Erfahrungen, die ich in meinem Leben gemacht habe. Zeiten der Veränderung, Zeiten des Wachsens und Zeiten des Lernens sind in das Album eingeflossen. Und ich hoffe, dass die Leute das raushören werden und es etwas in ihnen berührt.
Ganz oberflächlich betrachtet hoffe ich, dass sie einfach eine schöne Zeit beim Hören haben werden und die Musik genießen. Aber wenn die Leute etwas Tiefergehendes wollen, ist es auch da - und sie können so tief gehen, wie sie wollen. Es gibt auf "Construct" eine Menge Codes, eine Menge Dinge, die Anspielungen sind, die nur ich verstehe. Aber das war sehr wichtig für mich, denn ich schreibe Musik für mich selbst. Ich teile sie mit anderen und hoffe, dass sie jemandem etwas bringt.
Welche Resonanz erhoffst du dir von den Hörern?
Ich denke, es sind Songs dabei, die die Leute unglaublich glücklich machen werden oder ihnen vielleicht sogar helfen, ihren Stress und Schmerz rauszulassen, und sie nach vorne schauen lassen. Ich würde mir wünschen, dass "Construct" Menschen, die sich gerade beispielsweise wegen der wirtschaftlichen Lage, der Weltpolitik oder aus persönlichen Gründen Sorgen machen, die Kraft gibt, ihr Gedankenkarussell langsamer werden zu lassen. Dass sie vielleicht erkennen, dass es sich bei vielen Sachen gar nicht lohnt, sich darüber aufzuregen, weil es außerhalb ihrer Macht liegt, sie zu ändern.
Überrascht es dich, dass sich Fans in deinen Texten so sehr verstanden fühlen?
Ich habe schon früh gemerkt, dass ich Songs geschrieben und dann Feedback bekommen habe, dass die Leute sich darin wiedergefunden haben und sie sogar zu Schlüsselmomenten für sie wurden. Ich habe zunächst gar nicht verstanden, was ich da getan hatte. Ich dachte, ich würde die Musik lediglich als Katharsis benutzen. Ich spreche mit der Welt und vielleicht hört mir jemand zu. Ich hätte nicht gedacht, dass die Art und Weise, wie ich versucht habe, meine eigene Situation und die Dinge, die in mir vorgingen, zu beschreiben, auch andere Menschen berühren.
Glaubst du, dass es dich zu einem besseren Künstler macht, wenn du in der Vergangenheit nicht nur gute Lebenserfahrungen gesammelt hast?
Meine Kindheit war keine glückliche Zeit. Mir fallen wirklich keine Momente ein, in denen ich gedacht habe: "Wow, ich bin glücklich!" Ich war einfach anders. Ich war ein schwieriges Kind. Und meine Eltern wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Ich komme aus einer Familie mit fünf Kindern. Mein älterer Bruder war der perfekte Sohn. Er trieb Sport und hatte Freunde in der Schule. Und ich war im Vergleich zu ihm der Nerd. Ich war von so vielen Dingen fasziniert, die meine Eltern nicht begreifen konnten.
Zum Beispiel?
Ich habe Enzyklopädien gelesen, als ich fünf Jahre alt war. Ich wollte einfach alles Wissen der Welt in mich aufsaugen. Und ich hatte mit Sport nichts am Hut. Aber eine traurige Kindheit ist nicht immer etwas Schlechtes. Ich kenne eine Menge Leute, die ein wirklich schreckliches Leben hatten, und ich bin immer wieder erstaunt, dass sie es gesund und relativ unversehrt überstanden haben. Auch weil sie erkannt haben, was ihnen angetan wurde und sich vorgenommen haben: "Ich möchte nicht, dass andere Menschen verletzt werden, indem sie das Gleiche erleben müssen wie ich. Also werde ich die Dinge anders machen." Ich glaube, ich habe versucht, die Person für andere zu sein, die niemand für mich war. Es machte für mich Sinn, dass ich, wenn jemand Rat und Hilfe brauchte, zumindest versuchen werde, für ihn da zu sein. Etwas, das ich nicht hatte, als ich es gebraucht hätte. An dem, was passiert ist, kann ich heute nichts mehr ändern. Aber ich kann verhindern, dass es wieder passiert.
Wie schlägt sich das in deinen Texten nieder?
Viele meiner Texte habe ich in Zeiten geschrieben, in denen ich sie brauchte. Als "Empires" 1999 entstand, ging ich durch die Hölle. Alles, woran ich glaubte, fiel auseinander. Mir brach in jeder Hinsicht der Boden unter den Füßen weg. Ich habe dieses Album geschrieben, um die Worte zu singen, die ich gerne gehört hätte. Um mein eigenes Licht zu sein, weil ich es von niemandem sonst bekommen habe. Ich habe die Musik als eine Art Trost benutzt, um mir zu versichern, dass alles in Ordnung kommen wird. Ich war schon immer eine Art Optimist, egal, wie schwer die Dinge waren. Ich habe meinen eigenen Frieden gefunden, und ich habe Wege gefunden, all diese Dinge loszulassen, die nichts bedeuten, keinen Zweck in deinem Leben erfüllen und nichts für dich tun.
Fällt es dir heute leichter, Texte zu schreiben - oder war es zu Beginn von VNV Nation einfacher, weil der Druck vielleicht noch nicht so groß war?
Der Druck war auch damals da. Ich saß auch da schon am Mischpult und hatte einen Song, aber keinen Text. Ich kann die Lyrics dann quasi schon fühlen. Ich weiß, was ich ausdrücken will, aber die Worte kommen nicht. Als wärst du ein Teenager, der jemanden ansprechen will, den er wirklich mag, und plötzlich sind alle Worte weg. Dein Kopf ist leer. Heute ist es so, dass ich es mir beim Schreiben der Lyrics oft schwermache. Ich korrigiere sie und ändere sie ständig, weil ich genau weiß, was ich sagen will und welche Gefühle sie transportieren sollen. Es gibt viele Songs, bei denen der Text erst dann kommt, wenn er richtig ist, und das ist normalerweise dann der Fall, wenn man unter Druck steht oder sich in das Gefühl dessen, was man ausdrücken will, hineinversetzt. Manchmal denke ich, Schreiben ist wie der Versuch, durch eine Glasscheibe von den Lippen eines anderen zu lesen. Wer ist auf der anderen Seite, in einem anderen Universum, und sagt mir, wie der Text lauten soll? Als gäbe es eine andere Version von mir, die mir sagt, was ich schreiben soll. Das klingt jetzt allerdings nach einem Fall für einen Psychologen. (lacht)
Als wir uns im vergangenen Mai getroffen haben, hast du noch in der Planung von "Construct // Destruct" gesteckt und mir erzählt, dass es als Doppelalbum mit einer Yin- und einer Yang-Seite herauskommen soll. Nun erscheint der dunkle Zwilling "Destruct" doch erst später. Was ist passiert?
Die Entwicklung des zweiten Albums wurde kompliziert und entwickelte ein Eigenleben. Am Ende habe ich beschlossen, dass ich lieber zwei getrennte Alben machen möchte, damit sie die ganze Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen - und ich jedem Album die Zeit geben kann, die es braucht. Es wäre falsch gewesen, sie zu einem Doppelalbum zusammenzufassen, weil sie dann verglichen würden, obwohl sie so unterschiedlich sind. Ich denke, das eine würde dem anderen schaden. Anstelle eines Box-Sets denke ich nun über ein Deluxe-Box-Set für Sammler später im Jahr nach, mit einem Live-Album und vielen unveröffentlichten Tracks. Das gibt mir die Möglichkeit, mehr Musik über das Jahr zu verteilen und Spaß daran zu haben.
Im letzten Interview hast du mir erzählt, dass du "Construct // Destruct" auch visuell darstellen möchtest, beispielsweise durch Kunstinstallationen. Was wurde aus diesem Plan?
Fotos werden Teil des Boxsets sein. Ich habe viele Künstler eingeladen, Material einzureichen. Ansonsten schnappe ich mir meine Kamera und gehe herum, um Dinge zu fotografieren oder Kunst zu schaffen. Und ich möchte eine Licht-Installation machen. "Destruct" muss wirklich auf seine eigene Art und Weise präsentiert werden. Es ist ein ganz besonderes Album.
Wie sieht es mit Musikvideos aus?
Ich habe darüber nachgedacht. Ich hätte wirklich gerne ein Video für "Silent Speaks", aber ich habe dieses Problem, dass ich in meinem Kopf eine sehr klare Vorstellung davon habe, was ich will. Und Video-Produktionsfirmen arbeiten so nicht. Am Ende werde ich vielleicht selbst etwas mit zwei Freunden von mir gestalten, die in Hollywood arbeiten und verstehen, welches Gefühl ich mit dem Video transportieren möchte.
Du hast einige neue Songs bereits auf der aktuell noch laufenden "Construct// Destruct"-Tour live gespielt. Wie ist die Resonanz der Fans?
Ich hätte nicht erwartet, dass sie die neue Musik so sehr mögen werden. Sie haben aber keine Ahnung, was auf sie zukommen wird. Ich lese, wie sie online spekulieren und glauben, dass sie anhand der drei Songs, die sie gehört haben, einschätzen können, wie das Album klingen wird. Aber wer je ein VNV-Nation-Album gehört hat, der weiß: Jeder Song ist anders. Ich bin berühmt dafür, dass ich wie 20 Bands auf einem Album klinge.
Du hast neulich mit Chris Harms, dem Sänger von Lord Of The Lost, den Track "The Grey Machines" für sein Solo-Album aufgenommen. Wie kam es dazu?
Er hat mir sehr geholfen bei der Produktion von "Electric Sun" (dem aktuellen VNV-Nation-Album, Anm.d.Red.). Eines Tages sagte er: "Hey, ich habe dieses Album. Willst du diesen Song machen?" Ich sagte: "Schick mir ein Demo, weil ich keinen Song singen will, nur weil jemand danach fragt." Aber ich mag den Song wirklich. Er erinnert mich an den Italo-Sound aus den frühen 80ern. Ich habe meinen Gesangspart in etwa 15 Minuten aufgenommen. Es hat einfach Spaß gemacht und ich liebe das Ergebnis.
Mit wem würdest du gerne ein Duett singen?
Mit dem Sänger der Band The Blue Nile. Das erste Album "A Walk Across The Rooftops" der Band hat meine 80er-Jahre definiert, es war für mich einfach alles, was ich zu dieser Zeit hören musste. Und ich traf den Sänger später und habe ihm gesagt, wie ich seine Texte damals verstanden habe, und er bestätigte mir, dass er sie auch genau so gemeint habe. Ich dachte nur: "Wow!" Er habe sich beim Schreiben nicht getraut, seine Gefühle direkt auszusprechen und habe sich daher für einen poetischen Ansatz entschieden. Das Album ist etwas für Leute, die auf Poesie und die Schönheit der Melancholie stehen. Bei Melancholie geht es nicht darum, traurig zu sein. Und ich habe mich selbst in diesem Album gehört und mag es heute noch sehr. Ich weiß nicht, wie oft ich es gekauft habe, weil es mir so oft von Menschen gestohlen wurde. Er ist der einzige Sänger, mit dem ich jemals ohne darüber nachzudenken sofort singen würde.
Mit Ronan Harris sprach Claudia Spitzkowski
VNV Nation sind aktuell auf Europa-Tournee. "Construct" wird am 28. März veröffentlicht werden.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke