Halil Altındere setzt sich kritisch mit Problemen der Gegenwart auseinander: Migration, traumatische Erfahrungen, soziale Ungleichheit. Bekannt wurde er vor knapp zehn Jahren mit einem Projekt, in dem er die Geschichte eines syrischen Astronauten unter dem Eindruck der Flüchtlingswelle erzählt. Im Gespräch erklärt der 53-Jährige, warum er Pop-Art liebt, wo die Grenzen der Kunst liegen und welche Versprechen sie einlösen kann.
WELT: Eines Ihrer wichtigsten Kunstwerke, „Space Refugee“, wurde erstmals 2016 im Neuen Berliner Kunstverein ausgestellt. Sie schicken darin den ersten und einzigen syrischen Astronauten, Muhammed Ahmed Faris, ins All. Warum soll er ausgerechnet dort nach einem neuen Lebensraum für Flüchtlinge aus Syrien suchen?
Halil Altındere: Dieses Projekt entstand zu einer Zeit, als Syrer versuchten, das Mittelmeer in Plastikbooten zu überqueren und den Westen zu erreichen – das vermeintliche Zentrum der Demokratie, Berlin. Menschen wollten ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten. Doch viele scheiterten auf dem Weg und blieben irgendwo stecken. Viele andere kamen dabei ums Leben. Das hinterließ ein seltsames und beklemmendes Gefühl. Es ließ mich auch über die Grenzen der Kunst nachdenken. Wie Künstler mit traumatischen Ereignissen umgehen, führt oft zu Streit. Da gab es etwa einen Künstler, der den toten Körper des kleinen Jungen Aylan nachstellte.
WELT: Sie meinen Ai Weiwei.
Altındere: Das hat mich sehr gestört. Denn den Körper eines verstorbenen Kindes in der Kunst zu verwenden, bedeutet, Ausbeutung durch Kunst zu reproduzieren. Man kann auf ein Problem aufmerksam machen, aber man muss dabei eine ethische Grenze wahren.
WELT: Und wo ist diese Grenze?
Altındere: Damals waren Flüchtlinge im Zentrum politischer Debatten. Zwischen der Türkei und Europa wurden Verhandlungen geführt. Es gab diese Abkommen zwischen Merkel und Erdogan: „Wir geben euch drei Milliarden Euro, dafür behaltet ihr die Flüchtlinge in der Türkei.“ Der Westen wollte die Flüchtlinge nicht, aber gleichzeitig betonten sie mit Menschenrechtsrhetorik, wie sehr sie sich angeblich für das Thema engagieren. Erinnern Sie sich? Einige Weltpolitiker setzten sich in Plastikboote und posierten in einem Fluss, um Empathie mit Flüchtlingen zu zeigen. Aber das war nicht authentisch. Sie kehrten nach zehn Metern um. Ein echter Flüchtling hat keine Wahl – er kämpft ums Überleben. Mein Ansatz war es, die Situation nicht einfach nachzustellen, sondern jemanden einzubeziehen, der diese Erfahrung tatsächlich gemacht hat.
WELT: Muhammed Ahmed Faris floh 2012 während des syrischen Bürgerkriegs nach Istanbul und verstarb dort 2024.
Altındere: Ich fragte mich: Wie kann ich seine Geschichte als Künstler erzählen? Und so entstand die Idee: Wenn die Welt keine Flüchtlinge will, sollen wir sie dann einfach auf den Mars schicken? Es war eine ironische, aber auch tiefgründige Frage. Wir führten Zoom-Interviews mit zwei echten NASA-Mitarbeitern und nahmen sie ins Projekt auf. Ich sprach mit Experten für internationales Weltraumrecht. Falls Flüchtlinge eines Tages wirklich zum Mars auswandern sollten – wie würde die Architektur dort aussehen? Also arbeitete ich mit einem Architekturbüro zusammen. Aber es ging nicht nur um wissenschaftliche Aspekte, sondern auch um Muhammeds persönliche Geschichte. Ich wollte, dass er selbstbewusst auftritt. Kein weinender, bemitleidenswerter Flüchtling, sondern jemand, der sagt: „Ja, wir sind gerade hier, aber wir sind Gäste. Eines Tages werden wir in unser Land zurückkehren.“
WELT: Nach Assads Sturz glauben viele Menschen – insbesondere in der Türkei –, dass die Syrer zurückkehren werden. Auch in Deutschland dachten viele, dass türkische Gastarbeiter, die in den 1960er- und 1970er-Jahren nach Deutschland kamen, zurückkehren werden.
Altındere: Ich bin in Mersin aufgewachsen, und viele unserer Nachbarn waren Almancılar.
WELT: So nennt man Türken, die in Deutschland gearbeitet haben.
Altındere: Sie kamen jeden Sommer und bauten Häuser, aber niemand lebte darin. Sie sagten immer: „Wir sind in Deutschland nur Gäste, bald kehren wir zurück.“ Doch sie kamen nie. Die Häuser blieben leer. Für die Syrer heute ist die Situation ähnlich. Es ist schwer, eine eindeutige Vorhersage zu treffen, aber diejenigen, die Arbeit gefunden haben, deren Kinder zur Schule gehen oder die Handel treiben, werden wahrscheinlich bleiben. Und die sehr Armen, die denken „Ob ich hier sterbe oder dort, macht keinen Unterschied“, werden ebenfalls nicht gehen.
WELT: Gestern fragte ich einen syrischen Taxifahrer: „Warst du froh, als Assad gestürzt wurde?“ Er antwortete: „Ja, ich werde in ein paar Jahren zurückkehren.“ Gleichzeitig sagte er, er möge Deutschland nicht, die Türkei schon. Ist die Türkei für Muslime deshalb attraktiv, weil es Moscheen gibt, aber auch ein gewisses Maß an Freiheit?
Altındere: In dieser Hinsicht war die Türkei nie vollständig ein Nahost-Staat. Egal, ob religiöse Überzeugungen in der Türkei radikal oder liberal sind – es existiert hier immer auch ein alternativer Lebensstil. Gerade was die Freiheit von Frauen angeht, nimmt der Kampf dafür in der Türkei eine besondere Stellung ein.
WELT: Wie kamen Sie zur Kunst?
Altındere: In den 1990er-Jahren, als ich begann, Kunst zu machen, gab es einen starken Kontrast: Einerseits wurden Dörfer niedergebrannt, Figuren wie Mehmet Ağar dominierten die politische Bühne.
WELT: Der ehemalige Innenminister und Gefolgsmann von Erdogan.
Altındere: Andererseits boomte der türkische 90er-Jahre-Pop; die türkische Celebrity-Kultur war allgegenwärtig. Schlagersänger, Models, Fußballstars – eine „Lay-Lay-Lom“-Welt.
WELT: Benannt nach einem populären Song.
Altındere: Der damalige Minister- und Staatspräsident Turgut Özal hatte eine liberale konsumorientierte Atmosphäre geschaffen. Genau dieser extreme Kontrast brachte mich zur Kunst.
WELT: Und warum Pop-Art?
Altındere: Ich war von dadaistischen und situationistischen Bewegungen der 68er-Bewegung inspiriert. Formell mag ich Pop-Art, aber für mich ist es wichtiger, dass ein Kunstwerk eine Botschaft vermittelt. Die Technik oder das Material sind für mich zweitrangig – entscheidend ist, welches Material eine Idee am besten ausdrücken kann.
WELT: Welche Rolle spielt Ihre kurdische Identität in Ihrer politischen Kunst?
Altındere: Weil ich aus dem Osten stamme und Kurde bin, haben oft Leute in der Kunstwelt eine vorgefertigte Schablone für mich: „Er geht ins Ausland, weil er ein Kurde ist, deshalb wird er dort gemocht.“ Dazu hätte ich viel zu sagen – aber ich habe immer mit meiner Kunst geantwortet.
WELT: War diese distanzierte Haltung eine bewusste Entscheidung?
Altındere: Ja, ich mag es, eine gewisse Distanz zu wahren, sodass jeder das Recht auf Kritik behält. Ich bin Kurde, aber ich habe das Recht, auch die kurdische Gemeinschaft zu kritisieren. Genauso wie ich als Anarchist auch Anarchisten kritisieren könnte – denn jede Gruppe hat ihre eigenen Dogmen. Wenn ich zu den Demos am 1. Mai ging, beobachtete ich: Auf der einen Seite gab es kurdische Frauen, die Zılgıt rufen.
WELT: Ein traditioneller lauter, trillernder Ruf kurdischer Frauen, der oft bei Feierlichkeiten oder Protesten stattfindet, als Ausdruck von Widerstand und Gemeinschaft.
Altındere: Auf der anderen Seite standen Anarchisten, die Fahnen schwenken. Anfang der 2000er-Jahre gab es eine starke antikapitalistische Bewegung. Junge Frauen mit bunten Haaren trommelten tanzend und verwandelten die Demonstration in eine kreative Energie, die festgefahrene Geschlechterrollen infrage stellte. Selbst unter kurdischen Frauen fiel diese bunte, antikapitalistische Strömung auf. Doch orthodoxe Linke belächelten sie. Radikale Gruppen wiederum wirkten oft, als bestünde ihre Bewegung aus einer einzigen, strengen Struktur. Obwohl sie antimilitaristisch waren, marschierten sie im Gleichschritt wie Soldaten.
WELT: Wie bewerten Sie die neue Friedensinitiative zur kurdischen Frage? Der PKK-Anführer Öcalan hat zum Niederlegen der Waffen aufgerufen.
Altındere: Ideen sollten kämpfen, nicht Waffen. Ich schätze Friedensinitiativen sehr und hoffe, dass sie sich in der Realität durchsetzen. Aber das wird sich erst mit der Zeit zeigen.
WELT: Sie sind in der südostanatolischen Stadt Mardin geboren – sie gehört zu Mesopotamien, eine Stadt mit einer großen Geschichte, in der verschiedene ethnische Gruppen miteinander leben.
Altindere: Ich bin in Mardin geboren, aber meine Familie ist nach Mersin emigriert. Doch auch dort änderte sich weder unsere Sprache noch unsere Küche oder unsere Gewohnheiten. Nur weil sich unser Wohnort verändert, bedeutet das nicht, dass sich alles an uns verändert. Sobald wir die Türschwelle überschritten, dachten und sprachen wir Kurdisch. Draußen hingegen war die Sprache in der Schule und im öffentlichen Raum Türkisch. Deshalb beschäftigen sich meine Arbeiten mit genau dieser Erfahrung: dem Übergang zwischen privatem und öffentlichem Raum, Zweisprachigkeit, Identität.
WELT: Wie haben Sie dieses Thema in Ihrer Kunst behandelt?
Altındere: 1998 habe ich eine Arbeit mit dem Titel „My Mother Likes Fluxus“ gemacht. Es war eine Auseinandersetzung mit der Pop-Art. Auf den Bildern sitzt meine Mutter auf bunten Teppichen. Sie ist eine Frau mit Kopftuch, hält aber Bücher über Fluxus und Pop-Art in den Händen. Die Arbeit bestand aus zwei Fotografien. Meine Mutter ist ein sehr farbenfroher Mensch, und als ich Student war, fand ich diese überbordende Farbenpracht unglaublich faszinierend. Eines Tages fiel mir dann auf, dass die Farben, die ich in den Pop-Art-Büchern sah, auch in der Wohnung meiner Mutter zu finden waren – bunte Teppiche, Decken, Gardinen. Meine Mutter kann weder lesen noch schreiben und spricht nur wenig Türkisch. Sie liebt Pop-Art, weil sie so farbenfroh ist – aber in dieser Kunst steckt ja auch eine tiefere Bedeutung, ein kunsthistorischer Subtext. „My Mother Likes Fluxus“ thematisiert genau das. Auf einem der Fotos sieht es so aus, als würde meine Mutter eine große Ausstellung über Fluxus studieren. Tatsächlich hat sie mit Kunst gar nichts zu tun – aber ich habe mich mit einer gewissen Ironie diesem Thema genähert. Denn das Werk verweist auf die Kunstauffassung der Fluxus-Künstler, die sich gegen elitäre Kunstkonzepte richteten.
WELT: Gibt Ihnen Kunst Hoffnung?
Altındere: Ich arbeite mit Menschen, die Hoffnung in sich tragen – wie Muhammed Ahmed Faris, Muhammed Abu Hajar oder die Rap-Gruppe Tahribad-ı İsyan aus Sulukule. Im Video „Wonderland“ zeigen sie ihren Widerstand. Ihre Häuser wurden nicht nur physisch zerstört – ihr ganzes kulturelles Leben, ihre Straßenmusik, ihre Spielräume wurden vernichtet. Ich glaube, dass Hoffnung ansteckend sein kann, sie Bewusstsein schafft und sie das Leben eines anderen Menschen verändern kann.
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