Mit "The Overview" veröffentlicht Porcupine-Tree-Mitglied Steven Wilson sein mittlerweile achtes Solo-Album. Das Konzeptwerk umfasst lediglich zwei Tracks, kommt aber dennoch auf eine Spielzeit von 45 Minuten. Was der Weltraum damit zu tun hat und warum der digitale Fortschritt auch ein Rückschritt ist erklärt der Musiker und Produzent im Interview mit ntv.de. Außerdem spricht er über die Bedeutung Künstlicher Intelligenz für die Musik im Speziellen und die Kunst allgemein und welche Chancen sie bietet.

"The Overview" ist ein Konzeptalbum und vom sogenannten Overview Effect inspiriert. Was ist das und wie hast du davon gehört?

Steven Wilson: Tatsächlich wusste ich bis vor etwa einem Jahr nichts darüber. Ich hatte die Idee, mit jemandem zusammenzuarbeiten, und kam auf meinen Freund Alex, der eine Organisation namens "Space Rocks" leitet. Sie verbindet die Wissenschaft und Musik, Astronomen mit Musikern. Klingt erst mal nach einer seltsamen Kombination, aber es gibt da eine große Überschneidung. Derselbe Impuls, der die Menschen antreibt, Kunst zu schaffen, ist auch der, der sie fragen lässt: "Was gibt es da draußen?" Viele Wissenschaftler sind leidenschaftliche Musikfans und umgekehrt. Der Overview Effect beschreibt das Phänomen, wenn Astronauten zum ersten Mal aus dem Weltraum auf die Erde blicken. Sie erleben eine tiefgreifende Veränderung in ihrer Wahrnehmung - eine Art kognitive Verschiebung. Plötzlich verstehen sie, wie wunderschön, aber auch wie unbedeutend die Erde und die Menschheit im großen Universum sind.

Was hat dich daran so fasziniert, dass du ein Konzeptalbum daraus machen wolltest?

Vor allem, dass dieser Effekt bei jedem anders ausfällt. Manche berichten von unglaublichem Hochgefühl, andere empfinden tiefe Melancholie oder sogar Verzweiflung. William Shatner - Captain Kirk höchstpersönlich - hatte zum Beispiel eine sehr negative Reaktion darauf. Ich denke, das hängt stark davon ab, was man mitbringt. Wenn du ein großes Ego hast und dich für das Zentrum des Universums hältst, könnte dieser Moment dich nur in deinem Größenwahn bestärken.

So ist es vermutlich bei Jeff Bezos gewesen?

Sicher. Aber wenn du bereits eine gewisse Demut mitbringst oder Glaubensvorstellungen hast, die durch diese Erfahrung herausgefordert werden, kann das etwas völlig anderes mit dir machen. Letztendlich zeigt der Overview Effect eines ganz klar: Das Universum kümmert sich nicht um uns. Unser Leben ist in kosmischen Maßstäben vollkommen irrelevant. Die Frage ist nur, wie man mit dieser Erkenntnis umgeht.

Wenn dich jemand einladen würde, ins All zu reisen - würdest du es tun?

Ich denke, ja. Ich wäre ziemlich dumm, eine solche Gelegenheit abzulehnen, selbst wenn ich schreckliche Angst hätte. Ich meine, ich habe schon Flugangst. Die Vorstellung, in einer Blechdose zu sitzen, unter mir Millionen Liter Raketentreibstoff - das wäre für mich der absolute Horror. Aber gleichzeitig wäre es einfach zu faszinierend, um Nein zu sagen.

Wie würdest du wohl auf den Overview Effect reagieren?

Wahrscheinlich wäre meine Reaktion irgendwo in der Mitte. Ich wäre weder völlig euphorisch noch zutiefst erschüttert. Aber wenn man sich die Dimensionen vor Augen führt, sind sie einfach überwältigend. Die Menschheit existiert erst seit einem winzigen Moment im Vergleich zur Erdgeschichte. Die Erde ist über vier Milliarden Jahre alt, wir Menschen sind gerade mal 300.000 Jahre hier - das sind, relativ gesehen, nicht mehr als fünf Minuten. Und trotzdem sehen wir uns als die Hüter dieses Planeten. In Wahrheit ist das völliger Unsinn. Die Erde kam lange vor uns - und sie wird auch ohne uns weiterbestehen.

Das klingt schon ziemlich düster. Ist das für dich eine deprimierende Vorstellung oder eine Erleichterung?

Es ist deprimierend - aber es ist eben die Realität. Wenn man darüber nachdenkt, gehen einem all diese Gedanken durch den Kopf. Und dann stell dir vor, du siehst die Erde tatsächlich aus dem Weltraum: diesen unglaublich schönen Planeten. Und doch behandeln wir ihn wie Dreck.

Glaubst du, dieser Blick von außen könnte uns dementsprechend verändern?

Das müsste er eigentlich. Denn wenn du aus dem All auf die Erde schaust, siehst du keine Grenzen, keine Kriege, kein politisches Gezänk. Du siehst keine Egos, keine Promis, keine Politiker. All das verschwindet - übrig bleibt einfach nur dieser atemberaubende, vielfältige Planet. Vergleiche ihn mit dem Mars, einem toten Felsen aus rotem Staub. Und trotzdem sind viele Menschen nicht einmal neugierig genug, ihr eigenes Land zu verlassen. Nehmen wir mal die USA - 90 Prozent der Amerikaner besitzen nicht einmal einen Reisepass und werden es auch nie tun. Und das betrifft nicht nur sie. Auch viele Briten verlassen nie ihr Land. Für mich ist das einfach erschreckend.

Spiegelt sich diese Kritik in deinem Album wider?

Ja, das Album beginnt genau mit diesem Gedanken. Ich sehe meine Songs oft wie Filmszenen. Und so startet die Platte mit einer Szene, in der ich auf einem Moor einen Außerirdischen treffe. Er fragt mich: "Hast du uns vergessen?" - weil wir so sehr mit unseren digitalen Geräten beschäftigt sind, dass wir nicht mehr nach oben schauen. Wir nehmen die Welt um uns herum kaum noch wahr. Schau dich in einem Zug, einem Bus oder an einem Flughafen um - kaum jemand liest noch ein Buch. Alle starren nur auf ihre Bildschirme. Wir schauen nicht mehr hoch, nicht mehr um uns herum. Das ist eine tragische Phase in unserer Evolution. Und das alles ist in einer erschreckend kurzen Zeit passiert. Ich weiß, das klingt schon wieder düster - aber so meine ich es nicht. Es ist einfach eine Realität, über die wir nachdenken sollten.

Das Album wird von einem Film begleitet. Wann entstand diese Idee?

Tatsächlich war die Musik schon fertig, bevor wir überhaupt an den Film dachten. Die Idee dazu kam erst später - aus rein pragmatischen Gründen. Es würde keine klassischen Singles geben, also mussten wir uns überlegen: Wie promoten wir das Album? Für mich fühlte es sich eher wie ein Spielfilm oder ein Roman an. Zehn kurze, in sich geschlossene Songs zu schreiben, hätte keinen Sinn ergeben. Genauso wenig, wie eine Sammlung von Gedichten oder 20 einzelne Musikvideos zu machen. Das Album musste eine Langform haben - etwas, das als Ganzes funktioniert.

Du hast es stattdessen in zwei Hälften geteilt. Auch thematisch ...

Ich bin alt genug, um mit Schallplatten aufgewachsen zu sein! (lacht) Ich kann mir Alben einfach nicht anders vorstellen. Dieses Gefühl, eine Platte umzudrehen und in zwei Akten zu denken - das gehört für mich zur Kunstform dazu. Die erste Seite des Albums erzählt für mich die Geschichte der menschlichen Rasse - wie wir mit dem Universum um uns herum interagieren. Die zweite Seite hingegen dreht sich um die Wissenschaft, um den tatsächlichen Blick auf die unfassbare Größe des Universums. Beide Hälften haben also eine leicht unterschiedliche Ausrichtung. Der Film ist die Schöpfung von Miles Skarin, dem Regisseur. Ganz am Anfang habe ich mich mit ihm zusammengesetzt und über die Texte gesprochen, über die Bilder, die ich beim Schreiben der Musik im Kopf hatte. Denn wenn ich Musik mache, sehe ich immer auch eine Art Film in meinem Kopf. Ich habe ihm erzählt, was ich mir vorstellte - und dann hat er daraus etwas Eigenes geschaffen.

Ist "The Overview" auch eine Form von Eskapismus?

Ein Stück weit vielleicht, aber für mich geht es um mehr als das. Was ich zunehmend beobachte, ist, dass das Engagement für Musik massiv nachgelassen hat. Der Vergleich mit Kino und Literatur zeigt das ziemlich gut. Jeden Abend gehen Hunderttausende Menschen ins Kino, setzen sich zwei Stunden hin und schauen einen Film von Anfang bis Ende. Bei Musik passiert das kaum noch. Seit über 30 Jahren hören sich die wenigsten Menschen ein Album wirklich in voller Länge an - das musste ich mir selbst erst mal eingestehen. Ein Teil des Problems ist, dass kaum noch Musik gemacht wird, die diese Art von tiefem Zuhören einfordert. Viele Künstler gehen einfach davon aus, dass das Publikum eh nur 30 Sekunden lang hinhört - also machen sie Musik für 30 Sekunden Aufmerksamkeitsspanne. Aber das ist der falsche Ansatz. Man muss die Alternative anbieten.

Gibt es denn heute noch ein Publikum dafür?

Absolut. Zehntausende Menschen kaufen jedes Jahr Pink Floyds "Dark Side Of The Moon" oder "OK Computer" von Radiohead. Junge Leute entdecken diese Alben immer wieder neu. Das zeigt doch, dass die Fähigkeit zum tiefen Eintauchen noch da ist - nur bieten es nicht mehr viele Künstler an. "The Overview" ist so etwas wie das Äquivalent zu dem, was The Cure, Cocteau Twins und ähnliche Bands in den 80ern waren - Musik, die sich Zeit nimmt und von den Hörern dasselbe verlangt.

Es gibt auf dem Album auch Gesangs- und Spoken-Words-Passagen. Wer sind die Stimmen, die man hört?

Eine davon ist meine Frau. Sie spricht perfektes Englisch, ist aber keine Engländerin, und ihre Stimme hat diesen schwer einzuordnenden Klang. Auf der Platte klingt sie gleichzeitig distanziert, fast roboterhaft, aber auch seltsam emotional. Ich kann es selbst nicht genau analysieren - vielleicht liegt es daran, dass ihre Aussprache nicht eindeutig einer Region zuzuordnen ist. Die andere Stimme gehört Andy Partridge, einem meiner absoluten Lieblingssongwriter. Ich wollte eine Szene im ersten Stück, die die Geschichten ganz gewöhnlicher Menschen erzählt: eine Krankenschwester in einem Pflegeheim, ein Junge, der seinen ersten Job in einem Autohaus antritt, ein Ehemann, der seine Frau betrügt - eben diese kleinen Seifenopern des Alltags. Das sind die Dinge, die unser Leben dominieren, uns stressen, uns ängstlich machen. Andy ist - neben Ray Davies von The Kinks - für mich einer der besten Songwriter, wenn es um das Leben in Kleinstädten geht. Er schreibt nicht herablassend, sondern mit Empathie und einem scharfen Blick fürs Detail. Und er hat es wieder brillant umgesetzt.

Als Musiker, der seit Jahren im Geschäft ist, hast du schon so manchen technologischen Fortschritt erlebt. Wie ist dein Blick auf Künstliche Intelligenz?

Den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als gäbe es diese Technologie nicht - das funktioniert nicht. Vor 20 Jahren haben Musiker versucht, Sampling zu ignorieren. Hat es etwas gebracht? Nein. Die Technik verschwindet nicht, und wenn du sie ignorierst, wirst du zurückgelassen. Ich bin ein kreativer Mensch, aber das heißt nicht, dass ich KI ausblende. Die Frage ist: Wie integrieren wir sie in unseren kreativen Prozess, sodass sie ein Werkzeug wird?

Also ist KI für dich gar nichts wirklich Neues?

Nicht wirklich. In den letzten 20, 25 Jahren haben wir bereits Technologien genutzt, die Musiker besser klingen lassen, als sie tatsächlich sind. Es gibt Software, die Sänger, die nicht im Takt singen können, perfekt klingen lässt. Schlagzeuger, die nicht sauber spielen, klingen plötzlich präzise. Ich nenne keine Namen, aber wir alle wissen, dass das existiert. Sampler sind in gewisser Weise auch eine Form von Künstlicher Intelligenz. Sie erzeugen Klänge, die so real erscheinen, aber nie gespielt wurden. Der große Unterschied ist, dass KI zum ersten Mal eine Technologie ist, die den Menschen theoretisch komplett aus dem kreativen Prozess herausnehmen könnte. Das macht sie heimtückischer als alles, was wir bisher hatten. Aber hier kommt die positive Seite: Vielleicht zwingt uns das, kreativer zu werden.

Inwiefern?

KI kann nur nachahmen, was bereits existiert. Sie kann stundenlang generischen Techno, Metal oder Hip-Hop generieren. Sie produziert Massenware, nichts wirklich Einzigartiges. Und genau da liegt der Punkt: Die unvorhersehbaren Elemente der Musik kann sie nicht erfassen. Das ist es doch, was man Seele nennt, oder? Dieser menschliche Funke, das Unberechenbare, das sich nicht auf Algorithmen reduzieren lässt. Künstler müssen sich also fragen: Wie kann ich etwas erschaffen, das eine Maschine nie kopieren könnte?

Du selbst hast mal für einen Weihnachtssong damit experimentiert, richtig?

Nun ja, es war ein neuer Song, und ich dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, es mal auszuprobieren. Ich wollte sehen, was dabei herauskommt. Die KI hat endlose Seiten an Weihnachtstexten generiert - teilweise in meinem Stil, aber fast alles voller Klischees. 99 Prozent davon waren absoluter Schrott. Ich habe mich durch Hunderte von Zeilen gewühlt und vielleicht eine von hundert herausgepickt, die ich gut fand. Also habe ich am Ende ein paar brauchbare Stellen gefunden und sie eingebaut. Das hat mir klar gemacht, dass KI aktuell vor allem eines kann: Klischees erzeugen. "Tränen im Regen", "ein Blick in den Spiegel" - all diese abgedroschenen Phrasen. Es war faszinierend zu sehen, dass gelegentlich doch etwas Interessantes auftauchte. Aber die KI selbst hat das nicht erkannt. Ich musste derjenige sein, der sagt: Das ist gut, das ist nicht gut. Und genau das zeigt, dass das menschliche Element unersetzlich bleibt. Denn am Ende braucht es jemanden, der beurteilt, was tatsächlich funktioniert.

Mit Steven Wilson sprach Nicole Ankelmann

Das Album "The Overview" ist ab 14. März überall erhältlich.

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